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Wien, Erste Wiener Volksbuchhandlung (Ignaz Brand), 1896. XLVI u.
888 8. gr. 8. M.5.—.
Der Werth aller Werke GEore Lupwia von MAURER’s ist so allgemein
anerkannt, dass jeder Germanist die Wiederauflage dessen unter ihnen mit
Freude begrüssen wird, das im Laufe der Jahre das seltenste geworden ist.
Leiden die anderen Schriften des trefflichen Mannes an einer gewissen Weit-
schweifigkeit und hat sich der Autor bei der Fülle des werthvollen von ihm
mit emsigem Fleiss zusammengetragenen Stoffes nicht selten etwas gehen
lassen, so ist das bei der „Einleitung“ in keiner Weise der Fall. Ihre Auf-
gabe war es, die umfänglichen Werke über die Markenverfassung, die Fron-
höfe, die Dorf- und Stadtverfassung vorzubereiten und ihren Gedankeninhalt
kurz zusammenzufassen. Dass einem solchen für seine Zeit klassischen Buche
gegenüber jeder Eingriff in den Text unstatthaft sei, hat der Herausgeber
herausgefühlt, gleichwohl aber hat er der Versuchung nicht widerstehen
können, an Maurer’s Darlegungen anknüpfend in einem Vorworte die Er-
gebnisse der neueren ethnologischen und wirthschaftshistorischen Forschungen
einer kurzen Besprechung zu unterziehen. Ueber die Zulässigkeit dieses
Verfahrens wird man an sich getheilter Ansicht sein dürfen: jeder Ver-
such der Art muss eben seine Rechtfertigung in sich tragen. Beherrschte
Cunow — was man gegenwärtig schwerlich von irgend einem (Gelehrten
rühmen kann — thatsächlich die ungeheuere Fülle des den verschiedensten
Wissensgebieten angehörenden Materials gleichmässig, so möchte ein solcher
Ueberblick, indem er sowohl hinsichtlich der Methode als auch der Resul-
tate den Wandel der Zeit an des Lesers innerem Auge vorbeigleiten lässt,
etwas sehr Preiswürdiges sein. Diese Voraussetzung trifft aber in dem vor-
liegenden Falle nicht zu, man hat es offenkundig mit einem gelehrten Dilet-
tanten, nicht mit einem Fachmanne zu thun. Mag des Herausgebers Bekannt-
schaft mit der älteren Agrargeschichte aller möglichen exotischen Naturvölker
ihn auch befähigen, hier und da mit richtigen Bemerkungen zu den Ansichten
der neueren und älteren Schriftsteller über die wirthschaftlichen Zustände
der Germanen Stellung zu nehmen, so entbehrt er doch zu sehr der wirk-
lichen Vertrautheit mit den Thatsachen der Ueberlieferung, als dass seinem
Urtheil wirklicher Werth beizumessen wäre. Eine Lücke, die sich besonders
fühlbar macht, ist die Ignorirung des grossartigen Meıtzen’schen Werkes
über „Siedelung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der
Kelten, Römer, Finnen und Siawen“, durch das überhaupt erst die Grund-
lage für eine vergleichende Agrargeschichte gelegt wird. Die von Cunow
so zaghaft behandelte Frage nach der Entstehung der Einzelhöfe in Deutsch-
land z. B. ist dort im Wesentlichen wohl unzweifelhaft gelöst. Ebenso finden
sich daselbst ausserordentlich wichtige Auseinandersetzungen über den Ver-
band der altgermanischen Hundertschaften, durch die die Cunow’schen Dar-
legungen in mehrfacher Beziehung hinfällig werden. Aber auch die von dem
Herausgeber angeführte Literatur ist wohl nicht immer mit der nöthigen