Full text: Archiv für öffentliches Recht.Vierzehnter Band. (14)

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dessen Vorschrift Veränderungen der Reichsverfassung im Wege 
der Gesetzgebung erfolgen sollen, so steht hier „Gesetzgebung“ 
im Gegensatz zu „Vertrag“ und „Stimmeneinheit sämtlicher Bundes- 
glieder“, jedenfalls hat man an einen Gegensatz zum „Gewohn- 
heitsrecht“ nicht gedacht; und wenn auch dem nicht so wäre, 
so bliebe für den vorliegenden Fall noch zu erwägen, ob eine 
Ergänzung der Verfassung, die allein in Frage käme, schlechthin 
einer Veränderung der Verfassung gleichgestellt werden müsste. 
Indes kann dies ruhig dahingestellt bleiben, da die unerlässlichen 
Erfordernisse des behaupteten Reichsgewohnheitsrechts nicht zu 
erweisen sind. Dies gilt insbesondere von dem Erfordernis der 
opinio necessitatis. Man hat freilich behauptet, die verbündeten 
Regierungen hätten durch die Wiedervorlage der Postgesetz- 
entwürfe in der zweiten Beichstagssession des Jahres 1871 den 
Grundsatz ausdrücklich anerkannt, dass Sanktion, Ausfertigung 
und Verkündigung bis zum Beginn der nächsten Session statt- 
finden müssten; allein, wie demgegenüber bereits wiederholt fest- 
gestellt worden ist, erschien damals den verbündeten Regierungen 
die Verkündigung der fraglichen Gesetze nach Beginn der neuen 
Reichstagssession nur „nicht angemessen“!!, in diesen Worten 
aber kann die Anerkennung einer rechtlichen Notwendigkeit, wie 
sie die Bildung eines Gewohnheitsrechts verlangt, nicht erblickt 
werden. Hinzu kommt, dass bei den oben angeführten Reichs- 
gesetzen seitens der Reichsregierung gerade das entgegengesetzte 
Prinzip befolgt worden ist. Es kann aber schlechterdings nicht 
die Rede davon sein, dass sich bereits im Jahre 1871 ein gültiges 
Reichsgewohnheitsrecht gebildet habe, was zur Folge hätte, dass 
die dem im Jahre 1871 befolgten Prinzipe zuwider nach Beginn einer 
neuen Reichstagssession sanktionierten oder verkündeten. späteren 
Gesetze ungültig wären. — Ebensowenig ist erweislich, dass die 
preussische Regierung die rechtliche Notwendigkeit anerkenne, 
11 Vgl. Drucksachen des Reichstages, 1. Legislaturp. 2. Session No. 9.
	        
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