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dessen Vorschrift Veränderungen der Reichsverfassung im Wege
der Gesetzgebung erfolgen sollen, so steht hier „Gesetzgebung“
im Gegensatz zu „Vertrag“ und „Stimmeneinheit sämtlicher Bundes-
glieder“, jedenfalls hat man an einen Gegensatz zum „Gewohn-
heitsrecht“ nicht gedacht; und wenn auch dem nicht so wäre,
so bliebe für den vorliegenden Fall noch zu erwägen, ob eine
Ergänzung der Verfassung, die allein in Frage käme, schlechthin
einer Veränderung der Verfassung gleichgestellt werden müsste.
Indes kann dies ruhig dahingestellt bleiben, da die unerlässlichen
Erfordernisse des behaupteten Reichsgewohnheitsrechts nicht zu
erweisen sind. Dies gilt insbesondere von dem Erfordernis der
opinio necessitatis. Man hat freilich behauptet, die verbündeten
Regierungen hätten durch die Wiedervorlage der Postgesetz-
entwürfe in der zweiten Beichstagssession des Jahres 1871 den
Grundsatz ausdrücklich anerkannt, dass Sanktion, Ausfertigung
und Verkündigung bis zum Beginn der nächsten Session statt-
finden müssten; allein, wie demgegenüber bereits wiederholt fest-
gestellt worden ist, erschien damals den verbündeten Regierungen
die Verkündigung der fraglichen Gesetze nach Beginn der neuen
Reichstagssession nur „nicht angemessen“!!, in diesen Worten
aber kann die Anerkennung einer rechtlichen Notwendigkeit, wie
sie die Bildung eines Gewohnheitsrechts verlangt, nicht erblickt
werden. Hinzu kommt, dass bei den oben angeführten Reichs-
gesetzen seitens der Reichsregierung gerade das entgegengesetzte
Prinzip befolgt worden ist. Es kann aber schlechterdings nicht
die Rede davon sein, dass sich bereits im Jahre 1871 ein gültiges
Reichsgewohnheitsrecht gebildet habe, was zur Folge hätte, dass
die dem im Jahre 1871 befolgten Prinzipe zuwider nach Beginn einer
neuen Reichstagssession sanktionierten oder verkündeten. späteren
Gesetze ungültig wären. — Ebensowenig ist erweislich, dass die
preussische Regierung die rechtliche Notwendigkeit anerkenne,
11 Vgl. Drucksachen des Reichstages, 1. Legislaturp. 2. Session No. 9.