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die von den Kammern angenommenen Gesetzesvorlagen bis zum
Beginne der nächsten Session zu sanktionieren oder gar zu ver-
kündigen; das erhellt aus den gleichfalls bereits oben angeführten
preussischen Gesetzen, welche der Zeit nach sich auf verschiedene
Jahrzehnte seit Erlass der Verfassungsurkunde verteilen. Auch
für Preussen lässt sich somit das von RÖNNE, SCHULZE und
LaBAanD behauptete Gewohnheitsrecht nicht erweisen.
(Genau so unbegründet ist, wenigstens für das Deutsche Reich
und Preussen, der von anderer Seite als Gewohnheitsrecht be-
hauptete Satz, das gesamte Gesetzgebungsverfahren müsse während
des Bestehens der jeweiligen Volksvertretung, welche die frag-
liche Vorlage angenommen habe, abgeschlossen werden. Denn
auch hier lässt sich für das Erfordernis der opinio necessitatis
nichts erbringen, während andererseits in verschiedenen Fällen
die Praxis das gegenteilige Prinzip befolgt hat.
Wo die geschriebenen Verfassungen versagen und sich weiter-
hin auch ein ergänzendes Gewohnheitsrecht nicht nachweisen lässt,
können allgemeine Erwägungen, insbesondere über die Natur
des konstitutionellen Gesetzgebungsverfahrens, einen Anhalt für
die Beantwortung der aufgeworfenen Frage verschaffen. Bisher
ist in dieser Richtung besonders zweierlei geltend gemacht.
Einmal hat man das fast überall unbestritten !? herrschende
Prinzip der Diskontinuität der Sitzungsperioden zu verwerten
gesucht. Dieses Prinzip besagt, „dass Geschäfte der vorigen
Session, die nicht zum Abschluss gekommen sind, in der neuen
Session nicht einfach fortgesetzt werden können, sondern neu
begonnen werden müssen“!®, Es bezieht sich also nur auf die
182 Aber betreffend Preussen s. Zorn in der von ihm besorgten 5. Aufl.
von v. Rönne’s Preussisches Staatsrecht Bd. I S. 349: „Ein so wichtiger und
weittragender staatsrechtlicher Grundsatz müsste positiv in der Verfassung
zum Ausdruck gelangt sein. Dies ist nicht der Fall: durch Geschäfts-
ordnungsvorschriften und thatsächliche Vorgänge kann ein derartiger Funda-
mentalsatz des Staatsrechts nicht geschaffen werden.“
18 y. SeYDEL a. a. O. 8. 118.