Full text: Archiv für öffentliches Recht.Vierzehnter Band. (14)

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II. 1. Wenn im bisherigen als ausgesprochene Absicht des 
Verfassungsgesetzgebers gezeigt worden ist, dass der Kaiser als 
solcher von der materiellen Teilnahme am Reichsgesetzgebungs- 
verfahren ausgeschlossen sei, so ist hiermit für die Interpretation 
der Reichsverfassung die wichtige Auslegungsregel gewonnen, dass 
falls eine Spezialbestimmung der Verfassung eine Deutung sowohl 
im Sinne einer freien als auch im Sinne einer gebundenen Teil- 
nahme des Kaisers am Reichsgesetzgebungsverfahren zulässt, die 
Vermutung allemal für die letztere Annahme spricht. Dies ist 
von praktischer Bedeutung für die Interpretation der Art. 16 
und 17 R.-V. 
A. Art. 16 lautet in seiner jetzigen Fassung: 
„Die erforderlichen?* Vorlagen werden nach Massgabe der 
Beschlüsse des Bundesrats im Namen des Kaisers an den 
Reichstag gebracht, wo sie durch Mitglieder des Bundesrates 
Siebener Kommission wiedergegebene Aeusserung des Bundesratskommissars, 
Justizministers v. MiıTTnacHT (abgedruckt in den Annalen 1871, S. 874). — 
Bedenken erregen könnte es höchstens, dass v. Bismarck in der Reichstags- 
sitzung vom 25. Mai 1871 kurzerhand erklärte: „Ohne Zustimmung des 
Kaisers ist kein Gesetz möglich“ (Annalen 1871, S. 934f.); zieht man aber 
hierzu die unmittelbar vorhergehenden Worte: „Die Sache ist gegen meine 
Person gerichtet, denn ich kann nach der Lage der Dinge inderFragenicht 
majorisiert werden“, so dürfte die Annahme berechtigt sein, dass v. Bismarck 
nicht die staatsrechtliche, sondern die durch die derzeitige Lage bedingte 
politische Seite der Angelegenheit im Auge hatte. — Dass das Bundesprä- 
sidium selbst antänglich seine persönliche Zustimmung nicht als zu einem 
Bundesgesetze wesentlich erachtete, kann man wohl daraus schliessen, dass 
die Thronrede vom 26. Okt. 1867, mit welcher die erste ordentliche 
Session des nordd. Reichstages geschlossen wurde, ausdrücklich hervorhebt, 
dass die vom Reichstage beschlossenen Gesetzentwürfe die Zustimmung des 
Bundesrats erhalten hätten, ohne einer Zustimmung des Präsidiums 
als solchen irgendwie zu gedenken. 
2ı Hierzu bemerkt richtig WESTERKAMP, R.-V. S. 117 N.: „Das Bei- 
wort ‚erforderlichen‘ ist bedeutungslos. Die Vorschrift gilt von jeder Vor- 
lage, welche der Bundesrat an den Reichstag zu bringen für gut befindet.“ — 
Insbesondere wäre es verfehlt, aus diesem Worte Rechte für den Kaiser ab- 
zuleiten, indem man ihm die Entscheidung zuschriebe, ob eine Vorlage „er- 
forderlich“ sei.
	        
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