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dann hat der Kaiser zunächst zu prüfen, ob die Behandlung der
Vorlage im Bundesrate eine verfassungsmässige gewesen ist. Er-
giebt die Prüfung ein negatives Resultat, so hat der Kaiser unter
keinen Umständen das Recht, unter seinem Namen die Vorlage
des Bundesrates an den Reichstag zu befördern; anderenfalls
aber ist es seine Pflicht, die Vorlage im Reichstage einzubringen,
selbst wenn der materielle Inhalt der Vorlage ihm nicht zusagt.
Der Inhalt dieser kaiserlichen Pflicht ist nicht nur der, dass die
Vorlage überhaupt durch ihn, den Kaiser, an den Reichstag ge-
langt, sondern auch die Verpflichtung ist aus Art. 16 für den
Kaiser abzuleiten, die Einbringung nicht unnötig zu verzögern
(vgl. unten 8. 65). Ebensowenig darf der Kaiser die Vorlage in
modifizierter Form an den Reichstag bringen. — Wenn Art. 16
vorschreibt, die erforderlichen Vorlagen seien „im Namen des
Kaisers“ an den Reichstag zu bringen, so ist hiernach nur auf
eine ausdrückliche „Anordnung“ des Kaisers eine Vorlage des
Bundesrates an den Reichstag zu bringen. Diese Anordnung
bedarf aber nach Art. 17 i. f. der Gegenzeichnung des Reichs-
kanzlers, welcher damit die Verantwortlichkeit übernimmt. Als
ein neuer notwendiger Faktor des Reichsgesetzgebungsverfahrens
erscheint hier also der Reichskanzler in seiner Eigenschaft als
kaiserlicher Beamter, als verantwortlicher Reichsminister. Als
Gehülfe des Kaisers tritt der Reichskanzler hier auf, seine Teil-
nahme am Gesetzgebungsverfahren erstreckt sich daher nicht
weiter als die des Kaisers. Dies ist wichtig einmal für den Um-
fang der Verantwortlichkeit, welche der Reichskanzler durch seine
Kontrasignatur über sich nimmt: nur dafür, dass die Behandlung,
welche der Bundesrat der Vorlage angedeihen liess, den Vor-
schriften des Reichsstaatsrechtes entspricht, ist der Reichskanzler
nach erfolgter Gegenzeichnung verantwortlich, nicht auch für die
politische oder wirtschaftliche Zweckmässigkeit des Inhaltes; denn
% Vgl. v. Bismarck im Reichstag, Sten. Ber. 1881, I 8. 30.