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der Verfassung stattfinden musste. — Die Eröffnung des Reichs-
tages geschieht in der Praxis nicht „im Namen des Kaisers",
sondern „im Namen der verbündeten Regierungen auf Allerhöch-
sten Präsidialbefehl“, was nicht zu billigen ist; denn die Eröf-
nung des Reichstages ist ein vollständig eigenes Recht des
Kaisers, beruhend unmittelbar auf der Verfassung und gebunden
nur an die aus der Verfassung sich ergebenden Vorschriften, die
verbündeten Regierungen sind in keiner Weise an der Eröffnung
des Reichstages beteiligt; die Unrichtigkeit der gebräuchlichen
Formel erhellt insbesondere noch daraus, dass nach Art. 16 R.-V.
sogar die Bundesratsvorlagen „im Namen des Kaisers“ an
den Reichstag zu bringen sind.
Die Vertagung des Reichstages darf der Kaiser ohne Zu-
stimmung dieser Körperschaft über 30 Tage nicht ausdehnen
und im Laufe derselben Session nicht wiederholen (Art. 26). —
Den Bundesrat kann der Kaiser überhaupt nicht vertagen, wenn
ein Drittel der Stimmen einer Vertagung widerspricht; ausserdem
ist jede Vertagung des Bundesrates von einer gleichzeitigen Ver-
tagung, Schliessung oder Auflösung des Reichstages abhängig.
Das Recht des Kaisers, den Bundesrat zu schliessen, ist
insofern beschränkt, als durch den Widerspruch von einem Drittel
der Stimmen eine vom Kaiser beabsichtigte Auflösung vereitelt wird.
Hinsichtlich des Reichstages gilt diese Beschränkung nicht°®;
doch darf der Kaiser den Reichstag ohne Zustimmung des
Bundesrates nicht eher schliessen, als der Reichstag die von
diesem gemachten Vorlagen durchberaten hat, da sonst das Prä-
sidium, das zur Einbringung der Vorlagen verpflichtet ist, ein
Mittel in der Hand hätte, die Annahme derselben unmöglich zu
machen®*55, — Die Schliessung des Reichstages geschieht ebenso
58 Anderer Ansicht HIERSEMENZEL, Verfassung S. 52.
5 4. Meyer, Grundzüge des nordd. Bundesrechtes S. 77f.
55 Von dem gleichen Gesichtspunkte aus ist zu folgern, dass, wenn
der Bundesrat auf Verlangen von einem Drittel der Stimmen durch den