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In der Praxis aber zeigte sich ein Zustand, bei welchem das
Hauptorgan der Vollziehung von der Initiative zur Gesetzgebung
ausgeschlossen war, als unhaltbar. Unter stillschweigender Zu-
stimmung sämtlicher Reichsgesetzgebungsfaktoren hat sich infolge
dessen in langdauernder Uebung ein Gewohnheitsrecht gebildet, kraft
dessen der Kaiser als solcher die Initiative zu Gesetzentwürfen im
Bundesrate hat. Vollkommen unzweideutig werden Gesetzentwürfe
vom Reichskanzler unter der Formel „im Auftrage S. M. des
Kaisers“, „im Namen des Kaisers“ an den Bundesrat gebracht.
Gegenüber dieser kaiserlichen Initiative ist die preussische In-
itiative zu Gesetzentwürfen im Bundesrate bedeutend zurück-
geblieben °° ®!,
Von materieller Bedeutung für die Reichsgesetzgebung ist
aber dieses dem Kaiser aus der Gewohnheit erwachsene Initiativ-
recht nicht. Auf Grund desselben nimmt der Kaiser nicht etwa
materiellen Anteil an der gesetzgeberischen Willensbildung des
Reichs; ob die kaiserliche Vorlage zum Gesetze erhoben werden
vorlegen“ sollte, bestimmt die redigierte Reichsverfassung einfach, dass „ein
umfassendes Reichsmilitärgesetz dem Reichstage und dem Bundesrate — vor-
gelegt“ werden solle, ohne anzugeben, wer dasselbe vorlegen solle.
60 Wie eine bei BoRNHAaK, Arch. VIII S. 457 N., abgedruckte, der Nordd.
Allgem. Zeitung vom 3. Okt. 1892 entnommene Zusammenstellung ergiebt,
sind vom Jahre 1884 ab bis Anfang Okt. 1892 nur 25 preuss. Gesetzes-
vorlagen im Bundesrate eingebracht worden gegenüber 296 kaiserlichen.
ei Vgl. Haeneı, Stud. ILS. 42f.; Bınpina, Jahrb. f. Gesetzgebung etc.
N. F. V S. 380, BornBAK, Arch. VOII S. 455 ff.; Fischer, Recht des deutschen
Kaisers S. 149 ff.; LaBanp, Rstr. 1S. 208, Meyer, Rstr. 8.507. — Anders SEYpkL,
Kommentar $S. 145 und ausführlich GrAssmann, Arch. XI 8. 339. Darin hat
GirassMmann ohne Frage Recht, dass das Recht, die preuss. Stimmen im
Bundesrate zu instruieren, beim preuss. Ministerium geblieben und nicht aufden
Reichskanzler übergegangen ist. Aber wie häufig hat jemand das Recht, in
einer Versammlung Anträge zu stellen, ohne dass er in dieser Ver-
sammlung Stimmrecht hat, und nur ein solches Recht wird für den Kaiser
beansprucht: er kann im Bundesrate Anträge stellen, die Entscheidung ist
von ihm völlig unabhängig. Bei dieser Auffassung verlieren auch die übrigen
von GRASSMANN gegen die hier vertretene Ansicht gemachten Einwände ihr
Gewicht.