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worden ist, der Bundesrat in allen Fällen seine definitiv bindende
Entscheidung stets erst nach dem Reichstage abzugeben berechtigt
ist, so zeigt sich praktisch seine Stellung im Reichsgesetzgebungs-
verfahren der des Reichstages überlegen, und zwar hat er vor
dem Reichstage gerade das voraus, was bei dem Monarchen des
konstitutionellen Staates als Sanktionsrecht bezeichnet wird. Mit
Recht misst man also dem Bundesrat das Sanktionsrecht hin-
sichtlich des Reichsgesetzgebungsverfahrens bei, wie dies auch
thatsächlich, allerdings meist in anderem Sinne, von der herr-
schenden Lehre geschieht”. Auch der Kaiser nimmt an dem
auf die Bildung des Reichsgesetzgebungswillens gerichteten Ver-
fahren teil, freilich ohne einen Anspruch auf materielle Mit-
wirkung; seine Befugnisse sind rein formell und zwar sind es
folgende: einmal das Recht, im Bundesrate die Initiative zu Ge-
setzesvorlagen zu ergreifen, ferner das Recht, diese Vorlagen im
Reichstage vertreten zu lassen, endlich das Recht, die Vorlagen
des Bundesrates unter seinem kaiserlichen Namen an den Reichs-
tag zu bringen; auch sind hierher noch zu rechnen die in Art. 12
statuierten Befugnisse des Kaisers, den Bundesrat und den Reichs-
tag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schliessen. Wenn
diese Befugnisse auch nicht von materiellem Inhalte sind, so
stehen sie doch dem Kaiser aus eigenem Rechte unmittelbar auf
Grund der Verfassung zu, und handelt er bei ihrer Ausübung
nicht etwa auf Befehl eines anderen Organes®®; hieraus ergiebt
sich für den Kaiser die thatsächliche Möglichkeit eines Vetos,
keineswegs aber ein verfassungsmässiges Vetorecht.
An dem zweiten Stadium des (esetzgebungsverfahrens,
welches bezweckt, nach vollzogener Bildung des staatlichen Ge-
setzeswillens diesem die Rechtsverbindlichkeit zu verschaffen, hat
in der konstitutionellen Monarchie die Volksvertretung keinen
Teil, vielmehr gehört diese Thätigkeit zur ausschliesslichen Kom-
e7 Vgl. z. B. Meyer, Rstr. S. 504f. N. 4 und die daselbst Zitierten.
08 Auf dem entgegengesetzten Standpunkte steht SEYDEL, Kommentar S.126.