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Abgeordnetenhause vorläufig ausschliessend wirken solle. Der
Sinn des Art. 115 ist vielmehr zunächst nur der: entgegen dem
Grundsatz: lex posterior derogat priori, wird die Verordnung
durch die mit der gleichen Materie sich befassenden Vorschriften
der Verfassungsurkunde vorläufig nicht entkräftet; und weiterhin:
wo Verordnung und Verfassungsurkunde auf diesem Gebiete sich
widersprechen, giebt vorläufig die Verordnung den Ausschlag.
Es sind also die Vorschriften über die Wahlen zum Abgeord-
netenhause in zwei nebeneinander bestehenden Gesetzen enthalten,
— ein Zustand, gegen den staatsrechtlich an sich nichts ein-
zuwenden ist.
In der bisherigen Literatur ist man gegentheiliger Ansicht,
man hält die Art. 70—72, 74 für völlig suspendirt. Die Ent-
stehungsgeschichte des Art. 115 bestätigt indess die hier ver-
tretene Ansicht.
Art. 115 ist erst in Folge der kgl. Botschaft vom 7. Jan.
1850 (Sten. Ber. der II. Kammer 1849/50 Bd. III S. 306f.),
in welcher er als Proposition XV enthalten war, in die Ver-
fassungsurkunde aufgenommen worden. Seine Motive (ibid. S. 584)
sind kurz; sie lauten:
„Die als Gesetz zu den Uebergangsbestimmungen pro-
jektirte Bestimmung in Betreff der Wahlen für die II. Kammer
wird sich von selbst rechtfertigen, wenn man erwägt, dass,
so lange die neue Gemeindeordnung noch nicht erlassen und
noch nicht überall in Kraft getreten ist, — worüber hinsicht-
lich der Landgemeinden der östlichen Provinzen noch einige
Zeit vergehen wird —, das in der Verfassung vorausgesetzte
Gemeindewahlrecht auch noch nicht durchgängig bei jenen
Wahlen zu Grunde gelegt werden kann. Jedenfalls würde
man ohne eine solche transitorische Bestimmung bei den zu-
nächst nach dem Erlasse der revidirten Verfassung eintretenden
Nachwahlen überall, wo die Zahl der Wahlmänner einer Er-
gänzung bedürfte, in Verlegenheit gerathen.“
Archiv für öffentliches Recht. XV. 2. 16