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umgewandelt in den Stand der Hofleute, d. h. derjenigen, die am Hofe des
Selbstherrschers, wie die Leibeigenen am Hofe des Bojaren, nach älterer
Vorstellung, zu erscheinen und zu dienen verpflichtet sind.
Dem Russen erscheint daher der nicht russische, sich zum Teil erheb-
licher Sonderrechte im Staate erfreuende, Adel, im Gegensatz zu der „sehr
grossen Entwicklung der Gleichheit“ in jetziger Zeit, ein „aus dem Mittel-
alter vererbter Abteil der sonstigen Masse der Bevölkerung“; er bildet ihm
kein besonderes Ganzes und geniesst in den meisten Staaten nur Ehren-
rechte, wogegen ihm im Mittelalter „die ganze Staatsbevölkerung in scharf
getrennten Ständen — meist Adel, Geistlichkeit, Bürger, Bauern — unter-
schieden war, von denen jeder besondere Rechte genoss und dadurch ein
abgeschlossenes Ganzes gegenüber den anderen Ständen bildete“.
In diesem Urteil scheint nicht nur der Begriff des „Standes“ im mittel-
alterlichen Sinne gänzlich verkannt zu sein, sondern auch die Entwicklung
der Neuzeit gänzlich übersehen.
Stände, die von einander scharf getrennt sind, die besondere Rechte
haben und ein geschlossenes Ganzes gegenüber den anderen Ständen bilden,
giebt es noch jetzt in den meisten Kulturstaaten. Der Beamtenstand, der
Offizierstand, der Handwerkerstand, der Handelsstand, der Landwirtstand,
mit besonderen Rechten und Pflichten, sind mindestens so scharf von einander
getrennt, wie die vier genannten Stände des Mittelalters, von denen — wenn
auch nicht in Russland, so doch in Westeuropa — der Priesterstand sich
nur aus den drei anderen Ständen ergänzte und ausschliesslich aus diesen
Ergänzungen bestand, von denen doch der Adel — seit Einführung der
Nobilitierungen (Zörrz Bd. II S. 126) — sich nicht ausschliesslich durch die
Geburt, sondern aus dem Bürger- und Bauernstand, in Deutschland auch
durch Wahl zu gewissen geistlichen Würden, fortwährend vermehrte, von
denen dem Bürgerstand selbst aus Adel und Bauernstand häufig neue Elemente
zugeführt wurden, auch dem Bauernstand vieler Länder aus Bürgerstand
und Adel.
Das Bezeichnende des mittelalterlichen Standes liegt nicht in der
scharfen Abgrenzung, den besonderen Rechten, der angeblichen Geschlossen-
heit, also nicht einem Tschin oder San oder Rang, wie der russischen Be-
amten-, Adels- und ÖOrdenshierarchie, sondern in dem, ihm und ihm allein
und seinen Mitgliedern als solchen, wegen ihrer verschiedenen Leistungen
innerhalb des Staats, zustehenden Rechten gegen den Staat oder den den
Staatsgedanken verkörpernden Fürsten. Weit gefehlt also, dass die Stände
oder der staatswirtschaftliche Gedanke in der Einrichtung der Stände auf-
gehört haben, so ist vielmehr in einem Verfassungsstaat das ganze Volk, mit
seiner im Grundsatz gleichen Steuerpflicht, ein „Stand“ geworden, eine Ge-
meinschaft mit bestimmten Rechten auf oder gegen den Staat.
Politische Rechte, Rechte gegenüber dem Staat zu seiner eigenen Er-
haltung besitzt kein Berufsstand mehr; diese Stände haben nur ihre eigenen
Archiv für öffentliches Recht. XV. 2. 2
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