— 39% —
Ausübung des richterlichen Fragerechts in der mündlichen Ver-
handlung noch Nova auftreten, Eide zugeschoben und Erklärungen
abgegeben werden, deren Bedeutung auch bei gründlicher Vor-
bereitung nicht sofort übersehen werden kann und welche auf ein
unbefangenes Gericht ganz anders wirken werden, als auf ein
Gericht, welches sich schon vor der Verhandlung über seine An-
sicht klar geworden ist.
Freilich besteht auch hier eine Wechselwirkung zwischen dem
Referat und dem Verhalten der Parteivertreter. Die letzteren
werden naturgemäss Rücksicht nehmen auf das Gericht. Die
Thatsache, dass bereits auf Grundlage der Schriftsätze ein Votum
des Referenten vorliegt, ist ihnen bekannt, und sie kennen auch
die Bedeutung der Stellung des Referenten im Kolleg. Sie
werden daher von selbst dazu kommen, die Schriftsätze möglichst
vollständig zu machen, dafür aber dem mündlichen Vortrag nicht
diejenige Sorgfalt beilegen, welche sie anwenden würden, wenn
sie ein Gericht vor sich hätten, welches noch ganz ohne Kenntniss
der Sache ist.
Dadurch verliert die mündliche Verhandlung, welche über-
haupt bei vielen Gerichten viel zu wünschen übrig lässt, den
grössten Theil ihrer Bedeutung. Das rasche „Herunterleiern“
der Schriftsätze ist eine Eigenschaft, welche heute ebensowenig
aus den Sitzungssälen unserer Gerichte verschwunden ist, wie sie
es zur Zeit der WAcH’schen Ennquöte war. Es wäre von Interesse, .
hierüber heute eine neue Untersuchung anzustellen. Dieselbe
würde vermuthlich ergeben, dass wir in der Kunst der münd-
lichen Verhandlung heute nicht viel weiter gekommen sind als
vor 15 Jahren. Wenn man damals von der Nothwendigkeit
einer Erziehung und Schulung der Rechtsanwälte gesprochen hat,
so ist jetzt von den Wirkungen einer solchen Schulung nicht viel
zu verspüren. Wo die Ursache dieser Verhältnisse liegt, ist
schwer zu sagen. Das natürliche Hängen am Gewohnten, welches
sich von Generation zu Generation vererbt, und die Ueberlastung