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der Gerichte haben ihren Theil Schuld an der mangelhaften Ein-
führung der mündlichen Verhandlung bei vielen Gerichten. Denn
bei wirklich mündlicher Verhandlung können an einem Tage
kaum mehr als 6—7 Sachen kontradiktorisch verhandelt werden,
während die Geschäftslage vieler Gerichte die Verhandlung von
12—20 solcher Sachen an einem Sitzungstage fordert.
Wer nicht aus eigener Anschauung die Eindrücke der leben-
digen Darstellung kennt, kann schwer beurtheilen, von welchem
Werth eine wirkliche mündliche Verhandlung ist. Bei den Reichs-
tagsverhandlungen über die Novelle zur Oivilprozessordnung hat
sich hie und da unverkennbar ein gewisser Zug der Hinneigung
zu einer grösseren Schriftlichkeit des Verfahrens gezeigt. Man
hat auch vom „Mündlichkeitsfanatismus“ gesprochen, um für die
Schriftlichkeit weitere Konzessionen fordern zu können. Dieser
Zug hat seinen Ursprung gerade in der Mangelhaftigkeit der
mündlichen Verhandlung. Wo die Schriftsätze jedes Wort ent-
halten, welches in der Verhandlung vorgetragen wird und die
mündliche Verhandlung daher in einem mehr oder weniger wört-
lichen Ablesen der Schriftsätze besteht, da kommt man von selbst
zu dem Wunsch, dass den Schriftsätzen auch in der Prozess-
ordnung diejenige Bedeutung beigelegt werde, welche sie in der
Praxis besitzen. Wo hingegen wirkliche Mündlichkeit herrscht,
wie am linken Rheinufer, da hat man noch von keiner Sehnsucht
zach der Rückkehr zu grösserer Schriftlichkeit gehört.
Die zur sofortigen Verkündung der Entscheidung erforder-
liche gründliche Vorbereitung auf Grund der Akten mit ihrem
schriftlichen Referat muss also die Bedeutung der mündlichen
Verhandlung in jeder Weise abschwächen. Einmal macht sie
das Gericht befangen und dann veranlasst sie, entsprechend dem
allgemeinen Drange des Menschen, Ueberflüssiges zu vermeiden,
die Parteivertreter, die mündliche Verhandlung möglichst rasch
abzumachen. Wenn die Schriftsätze eine entscheidende Bedeutung
erhalten, so wird sich die Entwicklung wiederholen, welche der