Full text: Archiv für öffentliches Recht.Fünfzehnter Band. (15)

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besonders BäHr, zu Gunsten ihrer Ansicht geltend machen, auf 
die Wirkung des „Sichklarschreibens“. IHERING?® sagt mit 
vollem Recht: „Es ist eine höchst trefiende Wendung der deut- 
schen Sprache: Sich klarschreiben. Ich meinerseits habe die 
Wahrheit derselben unzählige Male an mir erfahren. Selbst bei 
Ideen, die ich jahrelang mit mir herumgetragen und in mir ver- 
arbeitet habe, erfahre ich immer wieder von Neuem, dass ich ihrer 
erst dann vollkommen mächtig geworden bin, wenn ich sie schrift- 
lich ausgeprägt habe.“ Wie häufig stossen dem Urtheilsfasser bei 
der Abfassung des Urtheils Bedenken auf, welche bei der ein- 
gehenden Berathung nicht hervorgetreten sind. Es ist eine Er- 
fahrungsthatsache, sagt LiepMmann?®, dass mitunter bei dem Ver- 
suche des Urtheilsverfassers, das mündlich beschlossene Urtheil 
schriftlich zu redigiren, diesem neue Zweifel entstehen, deren Be- 
seitigung ihm nun Schwierigkeiten macht. Und es kommt auch 
vor, dass diese Schwierigkeiten unüberwindlich sind, dass sie das 
ganze in der Berathung künstlich aufgerichtete Gebäude umstürzen. 
Ist dann das Urtheil bereits verkündet, so ist der Schaden meistens 
nicht mehr zu heilen. Vielleicht hilft der auf diese Weise ge- 
schädigten Partei die Einlegung eines Rechtsmittels, wie häufig 
ist dies aber aus irgend welchen rechtlichen oder thatsächlichen 
Gründen nicht möglich. In solchem Fall ist allerdings, wie man 
einwenden wird, das Urtheil im Richterkollegium nicht genügend 
erwogen worden. Aber der Richter ist nicht unfehlbar, er ist ein 
Mensch, mit menschlichen Schwächen behaftet. Diesen Schwächen 
muss das Gesetz Rechnung tragen und thut das an zahlreichen 
Stellen. 
Ich halte es mithin gleich den Anhängern des schrift- 
lichen Referats für richtig, dass vor der Verkündung der Ent- 
scheidung die Gründe derselben schriftlich vorliegen müssen, aber 
22 Scherz und Ernst in der Jurisprudenz 8. 350. 
23 A, a. O. S. 105.
	        
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