— 534 —
solcher überhaupt nicht mehr in Betracht käme, so ist das eine
thatsächliche Feststellung, über welche das Reichsgericht nicht
hinwegkann.
Noch deutlicher wird die Sache beim zweiten Anfechtungs-
grund. Die Auslegung eines Verwaltungsaktes ist natürlich nur
dann den Gerichten verboten, wenn sie irgendwie zweifelhaft ist.
Ziweifellose Verwaltungsakte haben sie einfach so anzuwenden,
wie sie sind; das ist ja schliesslich auch eine Auslegung, aber
eine zulässige. Das Reichsgericht erledigt die Frage mit dem
Satz: „Im vorliegenden Falle ist festgestellt worden, dass der
Inhalt klar und zweifellos sei.“ Nun ist es allerdings in der
französischen Rechtsprechung der Kompetenzkonflikte unwandel-
barer Grundsatz, dass es nicht darauf ankommt, ob das Gericht,
dessen Urtheil angefochten ist, die Auslegung für zweifellos hält;
es fragt sich vielmehr, ob eine Meinungsverschiedenheit objektiv
möglich, ob etwas auszulegen war?®. Allein die Revisionsinstanz,
wenn sie sich streng gebunden halten will an den „festgestellten
Thatbestand“, muss diese thatsächliche Frage eben nehmen, wie
sie das Gericht gestaltet hat. Und das will sagen, dass sie für
den Schutz dieser Zuständigkeitsgrenze der Gerichte überhaupt
lahmgelegt ist. Sie könnte nur dann eingreifen, wenn das Ge-
richt sich herbeigelassen hätte, thatsächlich festzustellen, dass die
von ihm gegebene Auslegung zweifelhaft ist. Wie die Dinge
menschlich zugehen, geschieht das wohl nie, es sei denn, dass
einmal ein Gericht nicht wüsste, dass das ein Revisionsgrund ist.
2° Aucoc, Droit adm. I n. 277; Kassationshof vom 27. Febr. 1855
(DarLoz 55 p. 296): „il ne depend pas d’eux d’usurper les attributions de
l’autorit6 administrative en qualifiant actes clairs des actes ambigus et en
pretendant appliquer quand ils ne font veritablement qu’interpreter.“ Der
Staatsrath als Kompetenzkonfliktshof hat sogar ausgesprochen, dass es ge-
nüge, wenn die Verwaltungsbehörde ihrerseits behauptet, ein Verwaltungs-
akt bedürfe der Auslegung; das binde das Gericht formell. Staatsraths-
Entsch. vom 8. April 1865, Note dazu in Journ. du Pal., jurispr. adm. XIV
p. 643,