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Ill.
Die Reichsverfassung bestimmt in Art. 22 Abs. 1:
„Die Verhandlungen des Reichstages sind öffentlich“ ®,
und in Art. 27:
„Der Reichstag ..... regelt seinen Geschäftsgang ...
durch eine Geschäftsordnung.“
Diese letztere nun stellt in 8 36 der Redaktion vom 10. Febr.
1876 folgende Norm auf:
„Die Sitzungen des Reichstages sind öffentlich. Der
Reichstag tritt auf den Antrag seines Präsidenten oder von
zehn Mitgliedern zu einer geheimen Sitzung zusammen, in
welcher dann zunächst über den Antrag auf Ausschluss der
Oeffentlichkeit zu beschliessen ist.“
Die Bestimmung der Geschäftsordnung nimmt also in ihrem
ersten Satze den Abs. 1 des Artikels der Reichsverfassung mit
einer sachlich unerheblichen Aenderung („Sitzungen statt „Ver-
handlungen“) auf, schränkt aber denselben und damit die Vor-
schrift der Verfassung für den Fall der Erfüllung gewisser Vor-
aussetzungen wesentlich ein, verkehrt denselben geradezu in sein
Gegentheil.e. Der so entstehende Konflikt zwischen den Be-
® Ein Grundsatz, welcher in den Verfassungen und Gesetzen der kon-
stitutionellen Staaten die Regel bildet, wenn auch nicht in so uneingeschränkter
Weise wie hier. Vgl. z. B. preuss. Verf. Art. 79: „Die Sitzungen beider
Kammern sind öffentlich. Jede Kammer tritt auf den Antrag ihres Präsidenten
oder von zehn Mitgliedern zu einer geheimen Sitzung zusammen, in welcher
dann zunächst über diesen Antrag zu beschliessen ist“, welchen die Ge-
schäftsordnung des Reichstages — nicht aber die Reichsverfassung — fast
wörtlich übernommen hat ($ 36). Hierüber siehe das im Text Folgende. —
Bezüglich der übrigen deutschen Bundesstaaten vgl. Sroerk, Handbuch der
deutschen Verfassungen, insbesondere S. 100 (Bayern), 133, 149 (Sachsen),
194 (Württemberg), 224 (Baden), 252, 270 (Hessen), 279 (Sachsen-W eimar-
Eisenach), 317 (Oldenburg), 384 (Sachsen-Meiningen), 451 (Coburg und
Gotha), 480 (Schwarzburg-Rudolstadt), 490 (Schwarzburg-Sondershausen),
501 (Waldeck), 529 (Reuss älterer Linie), 543 (Reuss jüngerer Linie), 553
(Schaumburg-Lippe), 566 (Lippe), 580 (Lübeck), 598 (Bremen), 615 (Hamburg).