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stimmungen der Reichsverfassung und der Geschäftsordnung für
den Reichstag findet seine Lösung in dem Verhältniss, in welchem
die beiden Rechtsgebilde zu einander stehen.
Die Reichsverfassung ist durch übereinstimmenden Mehr-
heitsbeschluss vom Bundesrath und Reichstag zu Stande gekommen
und durch das Präsidium ausgefertigt und verkündigt worden,
also ein Reichsgesetz. Dasselbe gewährt nun in Art. 27 dem
Reichstage das Recht, seinen Geschäftsgang durch eine Geschäfts-
ordnung zu regeln, ein Recht, von dem der Reichstag Gebrauch
gemacht hat, indem er auf Grund der Verfassungsbestimmung
seine internen Verhältnisse durch „Geschäftsordnung“ genannte
Ausführungsbestimmungen, wie sie eine erhebliche Zahl grösserer
Gesetze dem einen oder anderen Reichs- bezw. Staatsorgan zu
erlassen gestattet, statutarisch regelte’. Solche Rechtssetzung
aber, die sich auf ein Gesetz gründet, kann nimmer die Schranken
überschreiten, die das Gesetz selbst implicite und explicite für
die autonomische Normgebung aufstellt®, nur intra, nicht contra
legem besteht Autonomie zu Recht. Die Bestimmungen des
Art. 22 R.-V. und des 8 36 Gesch.-O, widersprechen sich
aber, und demgemäss muss, was die Geschäftsordnung im
Widerspruch zum Gesetz bestimmt, der Rechtswirksamkeit ent-
behren, müssen in concreto geheime Plenarverhandlungen des
Reichstages unzulässig sein.
Dennoch ist in der Litteratur versucht worden, entgegen
der, wie man meinen sollte, in ihrer kategorischen Form unzwei-
deutigen Ausdrucksweise des Art. 22 Abs. 1 R.-V. die Zulässig-
keit geheimer Reichstagssitzungen zu begründen.
’ Geschäftsordnung vom 12. Juni 1868. Vgl. Stenogr. Ber. des Reichs-
tags 1868 S. 11, 19ff., 287ff., 302, 368f.; Drucksachen No. 55, 117. —
Spätere Abänderungen kommen hier nicht in Betracht.
8 S, auch LaBanp, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches (1895) Bd. I
S. 8061: „Autonomische Festsetzungen können Verfassungssätze nicht auf-
heben.“ v. SeypEL, Der deutsche Reichstag. Annalen des Deutschen Reiches
1880 S. 416.