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generelle Beziehungen handle. Mir scheint aber, dass das auch auf die
sozialen Gesetze passt; denn so sehr auch der Verf. sich bemüht, nachzu-
weisen, dass „Gesellschaft“ ein Kollektivding ist, d. h. ein Ganzes, das aus
einer Vielheit diskreter, aber analoger Dinge, die eine reale Einheit bilden,
besteht, wie etwa Wald, Fluss u. dergl., so sehr betont er doch anderseits
wieder, dass es sich um geistige Erscheinungen handelt. Und für diese hat
doch höchstens die Psychologie, und auch die kaum, Gesetze gefunden.
Aber freilich, die Psychologie hat es nach dem Verf. nur mit dem Individuum
zu thun, und der allgemeine Geist ist etwas ganz anderes. Auch die höchst
scharfsinnigen und anregenden Untersuchungen des Verf. aber vermögen
mich nicht davon zu überzeugen, dass das wirklich der Fall ist; ich finde
weder eine klare Definition des Begriffes Staat, noch des Begriffes Gesell-
schaft, denn die oben angeführte hat doch starke logische Bedenken ‘gegen
sich. Die Stärke des Verf. beruht weniger in der Konstruktion neuer Be-
griffe, als in der Kritik der alten. Und hier ist vieles, was er sagt, vor-
trefflich, so namentlich, was er gegen die organische Staatslehre und gegen
leere Begriffe wie Völkerpsychologie und Volksgeist, anführt.
Das Buch, das durchaus auf gründlichster Kenntnis aller einschlägigen
Probleme beruht, ist nicht leicht zu lesen; es erfordert grosse geistige Arbeit,
die sich aber belohnt. Man wird sagen können, wenn es selbst diesem klaren
Kopfe nicht gelungen ist, die Berechtigung einer besonderen Sozialwissen-
schaft im engeren Sinne nachzuweisen, dann ist sie eben überhaupt nicht
nachweisbar. Dr. Gottfried Koch.
Achille Loria, Die wirthschaftlichen Grundlagen der bestehenden
Gesellschaftsordnung. Autorisirte deutsche Ausgabe. Aus dem
Französischen von Dr. Karl Grünberg, Privatdozent der politischen
Oekonomie an der Universität Wien. Freiburg i. B. und Leipzig,
Akademische Verlagsbuchhandlung von J. ©. B. Mohr (Paul Siebeck),
1895. XII und 290 S. gr. 8°. M. 6.40. Geb. M. 7.40.
In den civilisirten Ländern beider Hemisphären, heisst es am Anfang
des Buches, trete uns überall die gleiche Erscheinung entgegen: die unüber-
brückbare Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, deren einer trotz ihres
Nichtsthuns ungeheure und stets wachsende Einkommen zufliessen, während
die andere, weitaus zahlreichere, das ganze Leben hindurch um elenden Lohn
sich abmühe (S. 1). Den Thatsachen, die diesem Urtheil zu Grunde liegen,
bin ich der Letzte, ihr Gewicht zu beschneiden. Gleichwohl halte ich das
Urtheil für blosse Rhetorik; und schlimmer als das Urtheil ist die allgemeine
Ansicht, die daraus entwickelt wird. Für den Verf. bleibt nämlich die Grund-
lage des Kapitaleigenthums „stets dieselbe“. „Sie besteht in der Beseitigung
des freien Landes und in der Ausschliessung des Arbeiters von der Occu-
pation desselben — welches Ziel auf verschiedene Weise angestrebt und