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eines bestimmten Teiles der neuen Kodifikation nur unter dem
Gesichtspunkte dieser Theorie darf nie so weit gehen, dass Kon-
struktionen, welche mit dem lebendigen Rechtsbewusstsein der
Gegenwart keine unmittelbare Fühlung haben, lediglich als Kon-
sequenzen der Theorie gehalten werden. Man darf auch nie die
Hochachtung der Parlamentarier vor den Konsequenzen der
Theorie und ihrer eigenen Anträge zu hoch veranschlagen, das
einzelne Ornament der schönsten Theorie kann sich gerade im
neuen Recht als Produkt einer sehr alltäglichen Zufälligkeit im
parlamentarischen Leben entpuppen. Ist aus der Verletzung
dieser Gesichtspunkte die Abneigung des Praktikers gegen die
Theorie gewiss verständlich, so kommt hier seine besondere
Missachtung vor den Blüten der Theorie im öffentlichen Recht
einer vorurteilsfreien Auffassung leider nicht entgegen. Immerhin
muss auch dieser Standpunkt in der Praxis die Hand zur Ver-
einigung in dem einen folgenden Punkte bieten.
Die Arbeit der Gesetzgebung ist durch das gegebene Mass
menschlicher Voraussicht und die unübersehbare Fülle des gegen-
wärtigen und zukünftigen Lebens in glücklicher Fügung der
Weltordnung von der Pflicht befreit, das Leben in die starren
Formen eines absoluten, alles subsumierenden Rechtsgebildes
einzuzwängen. Fehlen hiernach in tausend Fällen die bestimmten
oft sehr erwünschten Normen des zur Anwendung kommenden
Rechtsgebietes, so wird der wohlthätige Einfluss einer Versöhnung
der streitenden Brüder allseits anerkannt. Allerdings wird dann
nur von der Theorie die Lösung der von dem Gesetzgeber nicht
gelösten Frage verlangt. Hoffen wir, dass ihr Versuch anerkannt
wird, durch Einnahme einer bestimmten Stellung eine klare sich
nicht in die Ferne verlierende Rechtszeichnung zu bieten und
damit Anhaltspunkte für eine Grenzregulierung beider Rechte zu
schaffen. Hoffen wir insbesondere, dass wir in diesem Sinne
Beiträge zur Feststellung der Grenzlinien der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit, des Privatrechtes und Civilprozesses, der Prozess-