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Denn „in der Wahrhaftigkeit gegen sich und die Welt, in der
Arbeit des Sichumdenkens bis zu den letzten Konsequenzen liegt
die Grösse Wilhelms I. Solche tief verankerte Naturen sind
langsam im Umdenken, aber wenn einmal umgedacht, dann eifrig
im neuen Fahrwasser“*!. Und doch werden wir allen Beteiligten,
nicht zum wenigsten der öffentlichen Meinung, danken müssen,
dass unserem alten Kaiser, der „nicht ohne Bangigkeit die tra-
ditionelle Stellung seines Hauses in einer Neuerung verschwinden“
sah*?, diese Aufgabe erspart blieb. Solche Rücksicht leitete ge-
wiss auch den Reichskanzler, der anfangs der siebenziger Jahre
überdies den ihm persönlich befreundeten, aber damals politisch
entfremdeten Kriegsminister v. ROON nicht mediatisieren und da-
durch die konservative Opposition stärken wollte, der später ge-
treu dem Grundsatze: quieta non movere es an dem praktisch
für den Augenblick ausreichenden Ergebnis genügen liess, der
nie ohne Not an Fragen rührte, die Reibungen im jungen Reich
erzeugen konnten. Die 99 Tage konnten begreiflicher Weise
den ersehnten Fortschritt nicht bringen, obwohl Kaiser Friedrich
seit 1870 stets für Abgabe der preussischen Militärhoheitsrechte
an das Reich eingetreten war*°*,
Ill. Die Zeiten sind andere geworden im 20. Jahrhundert.
Es wäre des Deutschen Reiches nicht würdig, wenn seine ver-
fassungsmässigen Rechte auf dem Papier ständen, und es nicht
die Kraft hätte, von den Bundesgliedern mindestens die Durch-
führung der Rechtslage zu erwirken. Es wäre Preussens, des
leitenden Staates nicht würdig, sich einer Entwickelung entgegen
zu stemmen, die dem Reiche Ansehen und dem Hohenzollern-
+1 Pfister, Das deutsche Volk im 19. Jahrhundert S. 408, 691.
+2 BAMBERGER, Erinnerungen S. 41.
+3 Bei dieser Sachlage verliert die Autorität der von LaBAnn, Staats-
recht 8. 484 Anm. 2 für seine Theorie angerufenen obersten Reichsbehörden
u. 8. w. sehr an Bedeutung.
38 PpILippson 8. a. OÖ. 8. 250, 273, 292.