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Verschmelzungsprozess des deutschen Volkes und damit das gegen-
seitige Verständnis auf jede Weise gefördert werden. Wo die
einzelnen Stämme sich abgeschlossen halten und nur wenige
Nachbarn kennen lernen, da herrscht Abneigung und Vorurteil,
das sich mit dem Selbstbewusstsein der stammlesfremden Minder-
heit nur steigert, ebenso wie die Religionsverschiedenheit gerade
da zum Hasse führt, wo neben der im gleichen Glauben ge-
schlossenen Bevölkerung keine oder wenige Andersgläubige leben.
Aber wie bei gleichmässiger Verteilung aller Konfessionen am
ehesten Frieden erblüht, so ist die Mischung der Stämme, das
Zusammenwirken aller Deutschen in den ÖOrganisationen des
Reiches, im Reichsdienst aller Art, das beste Mittel der Einigung.
Dies hat sich auch im Heer bewährt; aber gerade das Bestehen
einzelstaatlicher Hoheitsrechte auf fremdem Boden, das Hervor-
kehren der Ueberlegenheit des mächtigen Bundesgenossen gegen-
über dem Einheimischen, der Mangel an Verständnis für Wesen
und Aeusserlichkeiten auf beiden Seiten hat die günstige Wirkung
vielfach verdorben. Wenn auch in Berlin und vor allem vom
Fürsten Bismarck, dem unvergleichlichen Kenner der deutschen
Volksseele, mit Takt und Geschick Reibungen vermieden wurden,
und nirgends die Befürchtungen von 1870 sich bewahrheiteten *%,
so muss hier doch unumwunden ausgesprochen werden, dass
die Missgriffe einzelner untergeordneten preussischen Organe, vom
General bis zum Gefreiten, vom Geheimrat bis zum Schreib-
gehilfen, manchen Schaden angerichtet haben und vielfach daran
schuld sind, wenn oft in Norddeutschland der Widerstand süd-
deutscher Kreise gegen solche Erscheinungen und gewisse Sonder-
interessen einzelner norddeutschen Gegenden für ungehörigen
Partikularismus ausgegeben wird. Viele dieser Entwickelungs-
störungen würden im kaiserlichen Heere ebenso wegfallen, wie es
in der Reichspost der Fall ist. Dann hat das deutsche Volk,
“4 Fischer a. a. O. S. 78, 79.