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bezwingender Sprache. Sie schafft edle, schöne Formen. Das
ausgeprägte Formgefühl seiner Gedichte erinnert: vielfältig an
PLATEN, RÜCKERT und GEIBEL.
Wer SEYDEL persönlich kannte, den zog scheinbar anderes
an. Und doch war es im Grunde dasselbe. Die klare, einfache
Schönheit seiner Sprache war lediglich der Ausdruck seines inneren
Wesens. SEYDEL war ein klarer Charakter. Man wusste, wie
man an ihm war. Er war gleich stark in der Liebe gegenüber
dem Liebens-, im Hass gegenüber dem Hassenswerten. Er war
ein ehrliches, offenes Herz und bei aller Grösse des Geistes, aller
Tiefe und Weite spezieller und allgemeiner Bildung ein im Umgang
rührend bescheidener Mann. Dazu kam ein seltenes Mass un-
bewusster persönlicher Liebenswürdigkeit. Schon in seinen Zügen
lag Herzensgüte und Sonnenschein; und freundliches Wesen leuchtete
aus seinen hellen Augen. Erwärmend wirkte seine Nähe. Man
fühlte sich heimisch in seiner Umgebung.
Und zu dem allen kam noch ein ganz besonderes Geschenk
— wir erwähnten es schon oben —, ein treffender, nie verletzender
Witz. Er machte ihn rasch zum Mittelpunkt der Gesellschaft.
Wie wusste er auch dadurch den Kreis der trefflichen Männer
zu fesseln, in dem er — es waren zumeist frühere Kollegen aus
dem Ministerium des Innern, der feinsinnige Staatsrat v. NEUMAYR
an der Spitze — in seinen guten Zeiten allabendlich zum Dämmer-
schoppen zwischen sieben und acht drunten am Platzl in der
„Leberwurst* erschien! Wie liess er seinem Witze die Züge
schiessen, wenn wir zur Zeit des Maibocks mittags nach der
Vorlesung zusammen im „Garten“ des Hofbräuhauses einen Krug
leerten, oder wenn ihn der Abend hie und da mit Freunden im
Dirnbräu beim „Ungespundeten“ zusammen führte.
Und wie im Privatverkehr, so auch auf dem Katheder.
SEYDEL war ein mit Vorliebe gehörter Lehrer. Zwar sprach
er nicht frei — davon liess er sich durch sein Gehörleiden ab-
halten — und das Ablesen erfolgte in überaus raschem Tempo.