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wurde, dass damit gesagt sein wollte, diese Meinung habe lediglich
in Bayern Anhänger gefunden.
SEYDEL unterliess es, sich gegen Angriffe auf seine Theorie
zur Wehr zu setzen, wenn sie nicht von Fachleuten, sondern
von Politikern des Tages ausging, wenn die öffentliche Presse
seine Anschauung als partikularistisch bezeichnete. Die Kritik
der öffentlichen Meinung, des politischen Gegners liess ihn, wie
in anderen politischen Dingen, so auch hier kalt, mochte sie
noch so masslos sein. Er entschuldigte sie mit mangelnder
Sachkunde und getrübtem Parteiblick. Nur einmal wich er von
diesem Grundsatze ab, 1874; wie schon oben erwähnt, durch
einen Aufsatz in der „Gegenwart“, in welchem er die politischen
Verdächtigungen, die ihm aus seiner Staatenbundslehre erwachsen,
zurückwies. Ganz anders, sobald er sah oder glaubte, dass seine
Anschauung von Männern der Wissenschaft in abfälliger Weise
ins Politische hinübergezogen wurde. Hier ergriff ihn ernstlicher
Zorn und er konnte in einer Schärfe antworten, die seiner natür-
lichen Freundlichkeit völlig zuwider lief.
Es könnte auffällig erscheinen, dass SEYDEL sich auch schon
erhob, wenn seine Meinung in dem Sinne als eine bayerische
bezeichnet wurde, dass sie lediglich in Bayern sich der Aufnahme
durch andere staatsrechtliche Schriftsteller erfreute. Aber man
möge bedenken, dass damit doch die Möglichkeit gegeben war,
dass Dritte, Laien, diese Bezeichnung als eine politische auf-
fassten, und dass dies in der That auch geschah.
Man hat SEYDEL und seine Anhänger wegen ihrer Auf-
fassung des Reiches als eines blossen Staatenbundes nicht nur
als Partikularisten bezeichnet, sondern ihre Theorie als sezessio- °
nistisch, unpatriotisch, ja sogar reichsfeindlich verunglimpft. Bis
zuletzt war solche Charakterisierung in der ausserbayerischen
Presse nicht selten (z. B. noch Kölnische Zeitung vom 4. Jan. 1900
No. 8), hervorgerufen allerdings zum Teil dadurch, dass partiku-
laristische Parteianschauungen innerhalb Bayerns, selbst wenn sie
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