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des Unitarismus, der Vernichtung der Sonderexistenzen der
Bundesstaaten war. Wenn er dies that, so befand er sich völlig
auf dem Boden der Reichsverfassung, ebenso wie da, wo er be-
tonte, dass das Reich organisatorisch, in der Einrichtung der Bundes-
gewalt, in erster Linie auf dem Bundesprinzip beruhe. Dies zu
betonen, ist die Pflicht eines jeden, welcher die Reichsverfassung
rein juristisch und nur als Jurist auszulegen berufen ist. Mag
man das Deutsche Reich als Staat oder als Gesellschaft oder
sonst was ansehen, auf jeden Fall ist das Reich in erster Linie
Bund, föderativ organisiert, d. h. es herrscht in ihm das Gleichheits-
prinzip, Gleichheit der Rechte und Gleichheit der Pflichten der
Glieder. Alle Glieder haben ein gleiches Recht auf Teilnahme
an der Ausübung der Reichsgewalt. Wenn SEYDEL glaubte, bei
einem Streit zwischen dem Reich und einem Gliedstaate darüber,
ob letzterer ein Sonderrecht besitze oder nicht, könne die Frage
nicht einseitig vom Reich, durch Bundesrat und Reichstag, sondern
nur im Wege diplomatischer Verhandlung, durch Vertrag ent-
schieden werden, so war er weit davon entfernt, sich von politischen
Erwägungen leiten zu lassen, wie schon daraus hervorgehen mag,
dass er in solchen Fällen jederzeit dafür eintrat, Vergleichs-
versuche nicht zu unterlassen, sondern anzunehmen und sogar
aufzusuchen.
Dass die Folge seiner Auffassung von der rechtlichen Natur
des Reiches thatsächlich die war, dass die Gliedstaaten dem Reiche
unabhängiger gegenüberstehen, als bei der Bundesstaatslehre, und
dass insoferne SEYDEL’s Reichsauffassung partikularistischen Cha-
rakter besitzt, lässt sich nicht bestreiten, aber unerhört wäre es,
anzunehmen, SEYDEL habe diese Wirkung erzielen wollen und um
dessentwillen seine Theorie geformt. Dies hiesse SEYDEL das
erste absprechen, was die Allgemeinheit von einem reinen
Juristen und vor allem einem solchen der Theorie verlangen muss,
Sachlichkeit, Objektivität, Streben nach juristischer Wahrheit.
Und nichts stand SEYDEL höher, als von politischer Betrachtung