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der Zeit des Lehnswesens überkommenen Rechtsbegriffe ent-
sprach eine solche Anschauung vollkommen der Natur der Sache:
die Lehnsherren sahen ihre Besitzungen als ihr Privateigentum
an und verfuhren damit als boni patres familias — verkauften,
verschenkten, vererbten sie u. s. w. Da ist es denn nicht zu
verwundern, dass an die Beziehungen der Souveräne derselbe
Massstab wie an solche von Privatpersonen gelegt wurde; da-
durch erklärt sich auch der Umstand, dass das natürliche Völker-
recht mit dem Privatrecht in seinen Grundzügen und Konstruk-
tionen übereinstimmte®°.
Im Laufe der Zeit verwandelte sich der mittelalterliche
Patrimonialstaat in den modernen, auf öffentlich -rechtlichen
Grundlagen errichteten Staat. Der Begriff des imperium (Herr-
schaft ex iure publico) wurde ihm zu Grunde gelegt, und aus
einem Eigentümer wurde der Souverän ein Organ des Staates
und der Vertreter desselben. Augenscheinlich hätte sich gleich-
zeitig auch die Konstruktion des Völkerrechts modifizieren müssen;
jedenfalls hätte man erwarten können, dass die im Staatsrecht
stattgefundene grosse Ideenumwälzung nicht ohne Einfluss auf
das Völkerrecht bleiben würde. Thatsächlich kam es aber
anders. Auch zu unserer Zeit herrscht bekanntlich in dieser
Disziplin der privatrechtliche Charakter vor. Ja er wird sogar
von vielen Gelehrten als ein notwendiges und charakteristisches
Element der gegenseitigen staatlichen Beziehungen angeführt und
hervorgehoben. So z. B. behauptet GIERKE, „das gesamte Völker-
recht hat durchaus nur den Charakter von Privatrecht“®. Die-
selbe Ansicht von einer völligen Analogie zwischen Privat- und
5 Hier mag auch der Einfluss des vom mittelalterlichen öffentlichen
Recht rezipirten römischen Rechts hervorgehoben werden. Vgl. LABAND,
Die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts für das deutsche Staats-
recht 1880 S. 80. Neuerdings W. Hrasar, Das römische Recht in der Ge-
schichte der völkerrechtlichen Lebren 1901, Jurjew (russisch).
° Deutsches Genossenschaftsrecht 1868 Bd. I S. 843,