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das Servitut nicht aufhört zu bestehen, sondern im Gegenteil
das praedium dominans (der das Servitut besitzende Staat) alle
seine Rechte behält.
Eine solche Erwägung ist jedoch schwerlich im stande, die
Frage zu klären, da sie hauptsächlich auf einem Missverständ-
nisse beruht. Die Sache ist die, dass wenn irgend eine Lehre
des Völkerrechts sich durch ihre Strittigkeit und Unsicherheit
auszeichnet, es gerade die Theorie der Gebietsveränderungen und
ihrer rechtlichen Folgen ist. So ruft im speziellen die Frage
von dem Einflusse dieser Veränderungen auf schon bestehende
Vertragsverhältnisse die grössten Zweifel hervor. In der Litte-
ratur finden wir hier diametral verschiedene Ansichten; während
die einen (z. B. F. v. MaArTEns°!) behaupten, dass im Prinzip
alle internationalen Rechte und Pflichten des „verschiedenen“
Staates auf dessen „Erben“ übergehen, versuchen andere (z. B.
Kıarısıan ©) zu beweisen, dass der Tod eines Staates alle ihn
bindenden Traktate löst, so dass dieselben nicht auf den Staat
übergehen, der des ersteren Erbe antritt. Nur in einem Punkte
stimmen die Vertreter beider Richtungen gewöhnlich überein:
nämlich bei der Bestimmung der rechtlichen Kraft und Be-
deutung derjenigen Verträge, die bei einer teilweisen Gebiets-
abtretung das in Frage kommende Grundstück betreffen und es
sozusagen belasten. Diese Verträge, heisst es, verbleiben in
Kraft, da durch sie ein Sachenrecht auf das Territorium, dieses
oder jenes Servitut geschaffen wird. Es entsteht also ein circulus
vitiosus: die Verträge gehen deshalb auf den neuen Besitzer
über, weil ihr Objekt eine völkerrechtliche Verpflichtung ist, und
völkerrechtliche Verpflichtungen oder Beschränkungen der Souve-
ränetät des Cedenten tragen aus dem Grunde einen sachen-
rechtlichen Charakter, weil der Cessionar sie einzuhalten ver-
eı Völkerrecht Bd. I $8 67, 68.
62 KıaTıBıan, Oonsequences juridiques des transformations territoriales
des &tats sur les traites 1892 p. 8 et suiv., 35 et suiv.