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Höchst kontrovers ist hingegen der Grund seiner Verbind-
lichkeit. Seit Savıany und PucHTA wurde er vorwiegend in der
„verbindenden Kraft der Ueberzeugung der es Uebenden“ ge-
sucht, während die Theoretiker vor der historischen Schule, sowie
neuerdings BInDING, SEYDEL, HAGEns u. a. „stillschweigende
staatliche Genehmigung“ annehmen. Letzterer Ansicht steht
nach WINDSCHEID u. a. wenigstens für Staaten, in welchen die
Ausübung der Gesetzgebungsgewalt verfassungsmässig an be-
stimmte Voraussetzungen geknüpft ist, das Argument ent-
gegen, dass durch solche Verfassungsbestimmungen die still-
schweigende Aeusserung des Gesetzgebungswillens als unzulässig
Ausgeschlossen ist.
Wie die Sitte, wie das Recht überhaupt, beruht das Ge-
wohnheitsrecht auf einem Gemeinwillen, und zwar auf einem
Willen der Gesellschaft resp. gesellschaftlicher Gebilde. Es ist
nicht der Staatswille schlechthin, aber ein mit ihm vereinbarer,
denn nur so ist staatliche Garantie dieses Willens denkbar. Das
Gewohnheitsrecht qualifiziert sich — auch historisch
— als „werdendes Recht“, als das dem staatlichen
gegenüber weitere Recht, dessen Eigentümlichkeit es
ist, dass es auf den staatlichen Zwang als den wirk-
samsten gesellschaftlichen Zwang rekurriert. Infolge-
dessen erscheint es gewissermassen als staatliches Blankettrecht.
Die Anerkennung wirkt aber nur deklarativ, nicht konstitutiv.
Dem Völkerrecht fehlt zwar ein Gerichtszwang ad hoc, allein es
fehlt ihm nicht, im Unterschied zur blossen Völkerrechtssitte,
die geregelte und regelmässige Redressierung der verletzten
Norm.
Aus der Trennung des Gewohnheitsrechts als dem Recht
einer „Sozialpotenz“ vom staatlichen Recht folgt, dass selbst da,
wo durch die Landesgesetzgebung alles Gewohnheitsrecht. — also
formell — aboliert ist, solches entstehen kann und wird, sobald
selbst die weitgehendste Interpretation keine genügende Weite-