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Dr. jur. Oskar Netter, Das Prinzip der Vervollkommnung als
Grundlage der Strafrechtsreform. Eine rechtsphilosophische
Untersuchung. Berlin, Verlag von Otto Liebmann, 1900, IX u.
857 8.
Die Reform unseres Strafrechts steht vor der Thür. Theoretiker
wie Praktiker beginnen ihre Ansprüche an seine künftige Gestaltung zu be-
gründen und in bestimmte Formen zu fassen. Wird die Litteraturflut auch
nicht den Umfang erreichen, den wir bei der Entstehung des Bürgerlichen
Gesetzbuches schaudernd miterlebt haben, so verspricht doch der kräftige
Aufschwung, welchen die Wissenschaft des Strafrechts seit Erlass unseres
Reichsstrafgesetzbuchs genommen hat, dass die seither herangereiften wissen-
schaftlichen Kräfte in Wort und Schrift stärker als vordem nach An-
erkennung bei der (Gesetzgebungsarbeit ringen und Beachtung finden
werden.
Als ein gewagtes Unternehmen muss es gleichwohl erscheinen, wenn
eine Arbeit wie die obige als Vorstudie zu den strafrechtlichen Reformfragen
dienen will und dabei so ganz in der Theorie wurzelt und bei ihr verbleibt.
Gewiss ist es erstes Erfordernis für die Neugestaltung unseres Strafrechts,
dass man sich darüber klar und einig wird, wie die Grundmauern des neuen
Gebäudes angelegt werden sollen, ehe man sich über den Ausbau der einzelnen
Geschosse entscheidet; ja es besteht in der That, wie NETTER mit Recht be-
tont, „die Gefahr heute eher darin, über den einzelnen Reformbedürfnissen
die prinzipiellen Gesichtspunkte und den geschichtlichen Zusammenhang zu
übersehen, als darin, in zu weitem Masse sich auf den sicheren und ver-
lässigen Verlauf der bisherigen Entwicklung zu stützen“. Aber, um ein an-
deres Bild zu wählen, der Geist, den man dem neuen Gesetzbuche einhauchen
will, muss doch mit dem Beweise, dass er der folgerichtig rechte sei, auch
die Beweise liefern, dass und wie er Gesetzesform annehmen könne. Da
aber sich NETTER diesem Beweise entzieht, ist die Befürchtung gerecht-
fertigt, dass die Männer, in deren Händen die Durchsicht unserer Straf-
gesetzbücher dereinst ruhen wird, vor der überwiegend theoretisierenden
Art des Buches und seiner schweren Sprache zurückscheuen und den wert-
vollen, für die Umgiessung in die knappe Form von Gesetzespara-
graphen wohlgeeigneten Anschauungen nicht die erhoffte Beachtung widmen
werden.
Betrachtet man aber das Werk ohne Hinblick auf seine unmittelbare
Verwertbarkeit für die bevorstehende Revisionsarbeit, so kann man ihm das
Lob einer tüchtigen Arbeit nicht versagen. Es zeugt von einer unter Ju-
risten seltenen philosophischen Durchbildung seines Verf., die sich so-
wobl in der scharfen Gliederung des Stoffes als auch insbesondere im
logischen Aufbau der Entwicklung der Theoreme bekundet. Leider hat
diese philosophische Schulung auch üble Folgen für die Ausdrucksweise des