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Dieser Standpunkt ist zweifelsohne als der allein richtige anzu-
sehen. In der That, indem der Richter dieses oder jenes aus-
ländische Gesetz zur Anwendung bringt, erfüllt er bloss die Vor-
schrift der inneren Gesetzgebung. Die in jedem Staate gelten-
den Konfliktsnormen, d. h. Normen, die gewisse Rechtsverhältnisse
nach den Gesetzen eines bestimmten Staates zu beurteilen ge-
bieten, stellen einen integralen Teil des inneren positiven Rechts
dar. Das Gericht ist deshalb nicht frei, dieselben anzuwenden
oder nicht, sondern ist verpflichtet, das Gesetzgebot zu erfüllen.
Die Sache ändert sich auch dann nicht, wenn im System der
Konfliktsnormen eine Lücke besteht und der Richter genötigt
ist, sog. allgemeine Erwägungen zu Hülfe zu nehmen, d. h. das
Schweigen des-Gesetzgebers zu deuten. Das internationale Privat-
recht kann auch tacite recipiert sein. Diejenigen seiner Normen,
welche sich auf Usancen gründen oder aus dem Faktum des inter-
nationalen Verkehrs emanieren, sind von Staatsorganen und Pri-
vatpersonen als von der inneren Gesetzgebung recipiert anzusehen,
wenn das Gegenteil nicht ausdrücklich bestimmt ist. Jedenfalls
ist die Wahl zwischen inländischem und ausländischem Gesetz
keineswegs dem freien Ermessen des Gerichts überlassen *.
Die russische Kassationspraxis hat in dieser Frage, wie es
scheint, von Anfang an den richtigen Weg betreten. In keiner
der recht zahlreichen Entscheidungen des Kassationshofes, Fragen
des internationalen Rechts betreffend, ist ein Hinweis darauf zu
finden, dass ausländische Gesetze nicht anders als auf Antrag der
Parteien anwendbar sind. Im Gegenteil, hat der Kassationshof
(1884 No. 14) erkannt, dass, indem die russischen Gesetze die
v. Bar, op. cit. I, 133ff.; Niemeyer, Vorschläge und Materialien zur Kodi-
fikation des internationalen Privatrechts 1895, $ 8; Neumann, loc. cit.;
A. Rom, Principes du droit international prive 1897, I, 783 et suiv.
“ 14 Nach der treffenden Bemerkung NIEMEYER’s, loc. cit.: „Die Anwend-
barkeit ausländischen Rechts wird nicht als eine Konzession an das Belieben
der Parteien bloss zugelassen, sondern auf Grund objektiver Erwägungen
vom Gesetzgeber hefohlen.“