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essen der Gesellschaft, welche nach den verschiedenen Gruppen, Kultur-
bedürfnissen und Anschauungen verschieden und einem fortwährenden Wechsel
unterworfen sind, erfüllen den staatlichen Willen mit einem Inhalt; die
Staatsgewalt bringt diese wechselnden Zwecke zur Anerkennung und Ver-
wirklichung. Als Träger der Herrschaft sei der Staat eine Person; neben
diesem Subjekt der Staatsgewalt gebe es aber eine objektive Staatsordnung;
sie sei der Komplex aller von der Herrschermacht des Staates anerkannten
Interessen. Staat und Gesellschaft beeinflussen und widerstreben einander
und schaffen durch dieses Widerspiel der Kräfte ein Gleichgewicht, welches
durch die Staatsordnung (regime d’ötat) dargestellt werde. Diese Staats-
ordnung sei in ewigem Fluss; die Initiative zu ihrer fortwährenden Verände-
rung gehe von den einzelnen, oder Gruppen oder Klassen von einzelnen, also
von der Gesellschaft aus, nicht vom Staat. Diese Reformarbeit könne sich
entweder langsam und unbewusst vollziehen; dadurch entstehe das Gewohn-
heitsrecht; oder systematisch und bewusst, bisweilen mit intensiver Heftig-
keit durch das Gesetz. Gegenwärtig komme in den modernen Staaten nur
die letztere Art in Betracht, und die Verf. verlieren auch alsbald das Ge-
wohnheitsrecht ganz aus den Augen. Die Staatsgewalt, die Herrschaft des
Staates komme in der Sanktion des Gesetzes, die in der Gesellschaft vor-
handene, treibende Kraft in dem Inhalt des Gesetzes zur Erscheinung. Das
Gesetz sei die Aussöhnung des Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft,
ihre höhere Vereinigung.
Die Verf. verstehen hiernach unter dem Gesetz die Rechtsordnung, also
das Gesetz im materiellen Sinne, was schon durch die Zusammenstellung mit
dem Gewohnheitsrecht bestätigt wird. Auch ihre weiteren Ausführungen
laufen darauf hinaus, dass der Staat durch Aufstellung, Fortbildung und
Schutz der Rechtsordnung die gesellschaftlichen Gegensätze ausgleicht und
beherrscht. Aber sie verwenden diesen materiellen (desetzesbegriff unbewusst ;
sie ersetzen ihn alsbald durch den der französischen Rechtswissenschaft bis-
her allein geläufigen Begriff des formellen Gesetzes, d. h. eines von verfas-
sungsmässig berufenen Vertretern des Volkes oder der gesellschaftlichen
Klassen und Gruppen beschlossenen und genehmigten Willensaktes des
Staates. Das Endresultat ihrer Erörterungen besteht daher darin, dass ein
Staatswesen überall da anzunehmen ist, wo ein Gesetzgebungsorgan der be-
schriebenen Art vorhanden ist, und überall da nicht besteht, wo es an dieser
Einrichtung fehlt!. Nun entgeht es den Verf. nicht, dass auch Kommunen
und Verwaltungsbehörden Anordnungen treffen können, durch welche gesell-
schaftliche Interessen Befriedigung und Schutz finden: aber dies seien nur
Statuten oder Reglements, keine Gesetze, und deshalb zur Anerkennung eines
Staats ungenügend. Hierdurch sehen sie sich genötigt, den sachlichen Unter-
ı 8.386: „L’Etat est une collectivit& qui exerce comme un pouvoir
propre le droit de deliberer ses lois,“