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Liebesapostrophen vor den Traualtar getreten ist. Wir haben
das System wirken gesehen mit seinen Vor- und Nachteilen.
Wir erkennen nach wie vor seine grossen Vorzüge gegenüber
seinen Vorgängern an: gegenüber dem absolutistischen System,
bei dem der Staat ein von dem Volke verschiedenes, ihm als
Schützer und Herr gegenüberstehendes Gebilde war, das praktisch
mit dem Fürsten und seiner Beamtenschaft zusammenfiel, und
gegenüber dem ständischen, das die Staatsregierung zwischen
dem Fürsten und wenigen vornehmen Berufsständen teilte, die im
Mittelalter die Gesellschaft gegenüber dem (niederen) Volk ge-
bildet hatten. Der Parlamentarismus hat das Volk prinzipiell
für mündig erklärt, für geeignet, die Verwaltung seiner Ange-
legenheiten selbst zu besorgen. Der Parlamentarismus hat das
Volk nach langer Pause — die Entwicklung hatte ja mit der
Selbstregierung des Stammes begonnen — wieder zur Mitregie-
rung berufen. Das ist sein bleibendes Verdienst. Andererseits
erkennen wir, dass das System seine eigenartigen Gefahren hat,
auch Gefahren für das Recht.
Man kann an dem modernen Parlamentarismus in zweifacher
Weise Kritik üben. Entweder von dem Gesichtspunkte aus, dass
wir keinen reinen, normalen Parlamentarismus haben. Allent-
halben hat bei uns das parlamentarische System als ein erweiter-
tes ständisches System begonnen. Interesse im Wort „Interessen-
vertretung“ ist nur eine modernisierte Umschreibung von Stand;
Grossgrundbesitz eine Umschreibung von Adel. Es hat deshalb
eine Menge ständischer Elemente aufgenommen. Von vielen
Ländern kann man noch heute nicht einmal sagen, es sei dort
parlamentarisches System mit ständischem, sondern es sei stän-
disches System mit parlamentarischem Einschlag. Der über-
grosse Einfluss der ständischen Elemente wirkt aber ver-
wirrend auf das ganze Getriebe. Der parlamentarische Körper
verliert seine Funktion und seine natürliche Stellung zum Volk.
Er soll den Willen des letzteren vertreten, vertritt aber in Wirk-