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Die Frage scheint rein theoretisch zu sein. Man erhält aber
eine andere Meinung, wenn man den Unterschied in den Ge-
dankengang des Gesetzgebers verlegt; wenn man seine Stellung
im Auge hat, je nachdem das Gesetz den einen oder anderen
Zweck verfolgt. Ist das Gesetz deklarativ, so hat der Gesetz-
geber das Recht lediglich zu finden, wie der Richter es findet.
Die Eigenschaften, die er zu entfalten hat, sind vorzugsweise
Klarheit und Unbefangenheit; er hat richtig zu beobachten und
zusammenzufassen. Wenn er aber ohne Rücksicht auf die Lebens-
und Handlungsweise des Volkes — ich verstehe unter „Volk“ keinen
abstrakten Begriff, sondern die konkrete Menge der mit einander
lebenden und verkehrenden Menschen, die Bevölkerung —,
ohne Rücksicht auf den vom Volk in seinem Thun und Lassen
ausgesprochenen Willen neues Recht schafft, so erhebt sich die
Frage: Welche Motive bestimmen ihn? auf welchen Grund-
lagen, aus welchem Gedankengang schafft er dieses Recht? Das
ideale Motiv wäre allerdings das Bestreben, Friede und Wohl-
fahrt des Volkes zu fördern, und die Gefahr läge dann nur in
einem zu phantastischen, zu wenig im Leben wurzelnden Ge-
dankengang. Aber die Erfahrung lehrt uns die Motive des
menschlichen Handelns nach ihrer Häufigkeit und Kraft zu unter-
scheiden.
Das allgemeinste und stärkste Motiv des Menschen ist das
Interesse, das Eigeninteresse. Nach ihm kommen Gewohn-
heit und Suggestion (Erziehung, Umgebung, Autoritäten). Dem
ethischen Motiv kommt nur ein geringer Energiewert zu. Das
gilt auch für den Gesetzgeber. Auch er ist Mensch, ein einzelner
oder eine Summe einzelner. Wenn er nicht gebunden ist, wenn
er Recht aus eigener Initiative schafft, so wirkt auch auf ihn
zunächst das Eigeninteresse. Regelmässig wird dieses wohl nicht
das augenblickliche Interesse des Individuums sein, sondern das
mehr dauernde Interesse der Familien, Stände, Klassen, denen
der Gesetzgeber angehört oder mit denen er verbunden ist.