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sagen, dass das Herrenrecht durch Machtgebot geschaffen wird,
während das Volksrecht sich langsam aus dem Leben heraus
entwickelt, aus Zweckhandlungen, die zunächst von einzelnen
gesetzt und dann, wenn sie sich als zweckmässig zeigen, von
den anderen häufiger und häufiger nachgeahmt werden, bis sie
volkstümlich geworden sind. Das wirksame Interesse ist bei ihm
unbefangener, gemeinsamer, weniger streitbar. Aendern sich
Wirtschaftsweise und soziale Lagerung der Volksschichten und
mit ihnen auch die allgemeine Ueberzeugung von dem, was dem
friedlichen Zusammenleben und Zusammenwirken frommt, so
kann wohl ein Gesetz zur klaren Abthuung veralteter Sitte nötig
sein. Aber dieses Gesetz ist dann Volksrecht, deklarativ, es
giebt nur vorhandener Volksüberzeugung den Ausdruck.
Damit sind wir zur Frage gelangt, welche für uns mass-
gebend ist. Zu welcher der beiden Arten gehört das parlamen-
tarische Recht? ist es Herren- oder ist es Volksrecht?
Die Theorie kann darüber streiten. Wenn wir aber die Erfahrung
aller Länder fragen, so antwortet sie uns: Das parlamen-
tarische Recht ist Herrenrecht; Herr ist die parlamen-
tarische Majoritätspartei?. Das parlamentarische System ist
die Organisation des Parteiwesens. Es liegt in seiner Struktur,
dass sich Parteien bilden, dass sie miteinander kämpfen, dass
die eine Partei siegt, und dass nach dem offenherzigen amerika-
nischen Sprichwort der Sieger die Beute nimmt. Partei ist im
Gegensatz zu anderen Schichtungen des Volks die zur Erlangung
der Herrschaft und Durchsetzung ihrer Wünsche durch Herr-
schaft organisierte Bevölkerungsgruppe.
Für die Bildung des Rechts enthält diese Struktur offenbar
eine grosse Gefahr. Die Majoritätspartei wird, sowie sie gesiegt
hat, ein anderes Wesen. Sie erhält im Staat eine andere organische
Stellung. Sie wird Regierung, sie wird Herrin des staatlichen
® Grundsätzlich hat schon Rousseau ausgesprochen, dass ein Volk, das
durch Vertreter regiert wird, nur im Momente der Wahl frei sei.