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richtungen für verwahrloste Kinder zu beteiligen. Sehr interessant und
gründlich ist der Nachweis geführt, wie der Gedanke, es sei alteinge-
bürgerter Brauch und Pflicht des Staates, durch seine Justiz die Gesell-
schaft vor dem unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher zu schützen, des-
halb gehöre die „Verwahrung“, die „Verwahrungsanstalt“, das „Strafabsonde-
rungshaus“ recht eigentlich in das Ressort der Justiz, auf medizinischem
Boden gewachsen ist, und dass gerade für diese Abzweigsbewegung K.RAEPE-
rin-Heidelberg 1880 den Anstoss mit seiner Schrift „Die Abschaffung des
Strafmasses® gegeben hat. Umgekehrt: „nicht etwa Aerzte (8.25), son-
dern Juristen haben speziell in der Schweiz die Zurechnungsfähigkeit als
einen rein medizinischen Begriff erklärt“. Die Mediziner sind dann nach
der erweiterten Formel „Zuchthaus oder Irrenhaus“ einer Betrachtung ge-
folgt, welche ohne Rücksicht auf die begangene That die dem Individuum
angemessene Behandlung ins Auge fasst („Gründe des Wohles“) und die der
ganzen Auffassung des geltenden Strafrechts, das auf dem Gedanken der
Vergeltung beruht, widerspricht. Sehr amüsant lesen sich die Schilderungen,
wie Psychiater und Juristen mehr und mehr das Bedürfnis empfunden haben,
sich in teilweise gegenseitigem Ueberbieten des Entgegenkommens miteinander
einzuleben und als erlösendes Wort dazu die „verminderte Zurechnungs-
fähigkeit“ gefunden haben. Von dieser Auffassung der Psychiatrie kommt
sowohl die Verbrechensklassifikation vox LiszTs, als die Verwahranstalt des
Professors Stoosz. Entgegen dem Uebergewicht rein medizinischer Beurtei-
lung des Geisteszustandes verlangt Herr von ScHAUENSsEE die Aufstellung
eines psychologischen Kriteriums im Gesetze. S. 33 vindiziert Herr
VON SCHAUENSEE sich die Vaterschaft des Gedankens, dass man für den Voll-
zug der Freiheitsstrafe nur ein Kriterium — Besserungsfähigkeit — kenne,
Deshalb sei als Normalstrafe die Gefängnisstrafe anzusehen; gegen Unver-
besserliche dagegen sei das Zuchthaus zeitlich oder lebenslänglich zu ver-
wenden. In welcher Weise diese Anregung weiter gewirkt hat (SIcHART,
VAN CALKER, VON LILIENTHAL) wird ausführlich entwickelt. Wie sich denn
überhaupt die Arbeit zu einer knappen aber erschöpfenden Uebersicht über
die einzelnen Meinungen und Strömungen, speziell betr. die Behandlung der
Gemeingefährlichen und das Verhältnis zwischen Psychiater und Richter ge-
staltet. Auch hier freilich wird dem persönlichen Streite und der Ausein-
andersetzung mit dem Führer der schweizerischen Psychiater ein breiter
Raum eingeräumt. Mit der Berufung des Professor Stoosz nach Wien ging
die Führerschaft in der Kommission auf Professor Dr. E. ZÜRCHER, einem An-
hänger der italienischen Schule (LomBroso-FERRI), über, der die Verbrecher
nach Analogie der Geisteskranken behandelt wissen will. Unter ihm beharrte
die Kommission in ihrer Gleichgültigkeit gegen die Begriffsjurisprudenz, so
dass der neue Entwurf nunmehr einer vernichtenden Kritik namentlich Steng-
LEINs unterliegt, der ihn „ein Schiff ohne Kompass“ nennt. Alle Versuche,
den Hauptmangel, das Fehlen von Begriffsbestimmungen, zu beseitigen,
Archiv für öffentliches Recht. XVIIL 2. 20