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wirtschaftslehre in Berlin hielt. Er gilt und bezeichnet sich auch wohl selbst
als Vertreter der klassischen Schule. Diesen Standpunkt im gegenwärtigen
Vortrage zu betonen lag schon äusserlich um so weniger Anlass vor, als
der Kreis der Zuhörer ihn wohl nur in verhältnismässig geringerer Zalıl
teilt. Ausserdem tritt, und das hängt innerlich doch wohl mit seiner auch
politisch bethätigten Grundstellung zusammen, bei Herrn v. Bar eine minder
scharfe Reaktion auf Vorschläge der Modernen hervor, wie sie sonst uns
Anhängern der klassischen Schule eignet. Dem sei, wie es wolle. Jeden-
falls ist die Mahnung, bei Ersetzung unseres bisherigen Rechts durch neue
Vorschläge vorsichtig zu sein (Zeile 1 S. 25), cine durchaus berechtigte.
Wie denn, um das hier gleich vorweg zu nehmen, weder in früheren Schriften
anderer Autoren, noch auch im gegenwärtigen Vortrage, unseres Erachtens
ein wirklich überzeugender Nachweis dafür geführt ist, dass eine Reform
notwendig, geschweige denn, dass unser geltendes Strafrecht so rückständig
und unzulänglich sei, um mindestens sofort mit einer Teilreform in „einigen
Spezialgesetzen“ vorgehen zu müssen, Die radikalen Vorwürfe der Modernen
vom Bankerott des gesamten Strafrechtes u. ä. sind Radamontaden, gehalten
für die Leute jenseits der Barre. Und auch gegen Herrn v. Bar sei unter Be-
zugnahme auf das oben zur v. ScHAUENSEEschen Broschüre Bemerkte darauf hin-
gewiesen, dass unseres Erachtens eine strafrechtliche Vorlage, die im Reichs-
tage verhandelt werden könnte ohne einen Kampf der politischen, kirchlichen
und sozialen Parteien (Vorwort S. 1) zu erregen, und mag sie noch so sach-
lich und nüchtern sein, bei der gegenwärtigen Gesamtlage kaum denkbar
erscheint. Die grösste „Vorsicht“ ist unseres Erachtens in dem Einbringen
von Gesetzesvorlagen geboten, zumal sich im Wege der Verordnung —
[vgl. z.B. die auch S. 4 erwähnten, 1897 von den Bundesregierungen ver-
einbarten Strafvollzugsgrundsätze, und weiter die ausführliche, so vorzügliche
Dienstordnung für die dem Ministerium des Innern unterstellten Strafanstalten
und grösseren Gefängnisse Preussens vom 14, Nov. 1902, auf die sich schr
wohl eine ähnliche Vereinbarung der Bundesregierungen gründen könnte] —
vielerlei, eigentlich wohl namentlich auch ein vollkommen ausreichender Er-
satz für das immer wieder von neuem begehrte Reichsstrafvollzugsgesctz
(S. 3) müheloser möchte erreichen lassen. Im Vorwort bezeichnet Herr v. Bar
als die beiden Hauptfragen der Reform die Teilreform und den
Einfluss, welcher für das neue Reformwerk der anthropologisch-
sozialen Schule zu konzedieren wäre. Vermochten wir in seiner Ant-
wort auf die erstere der Fragen oben ihm nicht zu folgen, dem abweisenden
Allgemeinverhalten und dem Ablehnen fast sämtlicher Vorschläge der Anthro-
pologisch-Sozialisten wird um so lieber beigetreten. Ihre hauptsächlichsten
Forderungen sind bekanntlich, um sie kurz nach v. Bar zu rekapitulieren.
Strafe der antisozialen Gesinnung, Klassifizierung der Verbrecher in Ge-
legenheits-, Gewohnheitsverbrecher und Unverbesserliche, Abschwächung,
wonicht Beseitigung der zur Zeit noch geltenden Unterscheidung zwischen