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dass durch einen gewissen Verkündigungsakt die Rechtsvorschrift
als gemeinkundig gilt. Der Gegensatz zwischen beiden Methoden
ist allerdings kein scharfer und unvermittelter. Alle materiellen
Bekanntmachungen bedürfen immer zu ihrer Ergänzung einer
durch Gesetz oder Gewohnheitsrecht begründeten Fiktion der
(Gremeinkundigkeit. Denn kein Mittel der Bekanntmachung und
keine Häufung solcher Mittel giebt eine Gewähr dafür, dass das
Gesetz in der That allen bekannt wird®. Auch müsste die Be-
kanntmachung bei dem Wechsel der Personen, welcher sich stetig
in der Bevölkerung vollzieht, in kurzen Zwischenräumen immer
wiederholt werden. Dass das Gesetz auch denjenigen als ver-
kündet gilt, welche bei der Bekanntmachung nicht zugegen, ja
vielleicht noch gar nicht geboren waren, ist eine Fiktion, welche
nur durch einen Rechtssatz begründet werden kann.
Andererseits wird auch bei der Herrschaft des formellen Ver-
kündigungsprinzips ein Verkündigungsmittel gewählt, welches nicht
nur die Möglichkeit gewährt, das Gesetz oder die Verordnung
in ihrem authentischen Wortlaut kennen zu lernen, sondern auch
in einem gewissen, wenngleich beschränkten Masse die Bekannt-
schaft mit dem Gesetz thatsächlich verbreitet.
Die materielle Verkündigungsmethode war früher die herr-
schende; sie entspricht einer naiven Anschauungsweise und un-
entwickelten Verkehrsverhältnissen. Ihre grossen Mängel sind
offenkundig; bei umfangreichen Gesetzen, insbesondere bei grossen
Gesetzbüchern verfehlt sie gänzlich ihren Zweck. Seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts wurde sie von der formellen Verkündigungs-
methode allmählich verdrängt”; sie besteht heute nur noch bei Vor-
schriften von engbegrenzter räumlicher oder zeitlicher Geltung,
insbesondere bei ortspolizeilichen Anordnungen, Erklärung
des Kriegszustandes u. dgl. Von diesem Rest abgesehen gilt
° Lukas 8. 8.
” Eine ausführliche Darstellung dieser geschichtlichen Entwicklung
giebt Lukas in dem angeführten Buch.