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heute eine Rechtsvorschrift als verkündigt, wenn sie in einer ge-
setzlich bestimmten Weise bekannt gemacht worden ist, und
diese Art der Bekanntmachung ist jetzt überall und ausnahmslos
der Abdruck in einem von Rechts wegen dazu bestimmten Blatt.
Inwieweit dieser Abdruck thatsächlich die Bekanntschaft der
Rechtsvorschrift verbreitet, ist gänzlich unerheblich; es ist noto-
risch, dass nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Bevöl-
kerung die Gesetzblätter liest. Die wirkliche Kunde der Gesetze
wird selbst bei denjenigen, die sich diese Kenntnis verschaffen
müssen oder wollen, durch Zeitungen, Privatausgaben, Kommen-
tare u. 8. w. in weit grösserem Masse als durch die Gesetzblätter
verbreitet°.
Der wesentliche Punkt, auf welchen es allein ankommt, ist
der Rechtssatz, welcher dem Abdruck in einem gewissen Blatt
die Kraft der Verkündigung beilegt. Die Wirkung dieses
Rechtssatzes ist es, dass das Gesetz durch diesen Abdruck als
aller Welt verkündet gilt, auch wenn niemand von seinem Inhalt
Notiz genommen haben sollte, und dass andererseits Abdrücke in
tausend Zeitungen und Privatausgaben nicht ausreichen, wenn
der eine Abdruck, an welchen das Gesetz die Fiktion der Kund-
barkeit knüpft, fehlt. Es giebt daher keine rechtswirksame
Verkündigung ausser auf Grund eines Rechtssatzes,
welcher einer gewissen Art der Bekanntmachung die
Rechtswirkung der Verkündigung beilegt®.
Dieser Grundsatz hat keinen Zusammenhang mit der Art
und Weise, wie eine Rechtsvorschrift zu stande gekommen und
von wem sie auf Grund verfassungsmässiger Zuständigkeit er-
—
® Lukas S. 6 nennt diese — rechtlich unerhebliche — Verbreitung
der Gesetze die gesellschaftliche Publikation.
® Rosın, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl. 1895 S. 255. „Die Publika-
tion ist nicht eine einfache Bekanntmachung, sondern die bestimmte Form
und Art des gesetzgeberischen Ausspruchs, dass gewisse Vorschriften Recht
sein sollen.“