- 366
IV. Die deutsche Staatsrechtswissenschaft hat frei-
lich, wie bekannt, BısmArcks Vertrauen, dass das Reich auf diese
Weise hinreichend fest juristisch begründet sei, im grossen und
ganzen nicht geteilt. Man kann es ihr nicht verargen, wenn sie
ihn als Theoretiker nicht all zu hoch einschätzt. Sie glaubt seine
unzulänglichen juristischen Anschauungen verbessern zu müssen,
indem sie noch irgend eine centrale Konstruktion hinzufügt, sei
es etwas wie einen wirklichen Reichssouverän, sei es eine ohne
erkennbaren Träger frei in der Luft schwebende Reichsstaats-
gewalt, welche unmittelbar gegeben ist oder in welche die ver-
tragsmässige Grundlage, die man zuerst anzuerkennen Miene
macht, unerwartet umschlägt. Es ist sehr viel Scharfsinniges,
teilweise auch sehr Sonderbares dabei hervorgebracht worden;
am gelungensten ist jedesmal die gegenseitige Widerlegung:
plurimae doctorum opinione) mutuis inter se telis corruunt. Das
Bundesverhältnisse. Er meint nur: „aber es ist daneben doch zugleich ein
Reich, das heisst aber, wie ich meine, auch nach Bismarck ein eigener Staat“
(S. 95). Die Gründe, welche in Note 327 zur Stütze dieser Meinung an-
geführt werden, sind kümmerlich genug. Der beste ist noch der, dass Bis-
MARCK die Bundesstaaten manchmal zugleich als Einzelstaaten bezeichnet,
„was den Gegensatz zum Gesamtstaate nahelegt“. Es ist ja selbstverständlich,
dass Bismarck das Reich als einen Bundesstaat auffasst und ihm in seiner
Gesamtheit den politischen Wert eines staatlichen Gebildes beilegt. Aber
bezüglich der juristischen Form, in der er ihm diese Gestalt gegeben zu
haben glaubt, äussert er sich so entschieden für Vertrag und Bund, dass die
gleichzeitige Annahme eines Oberstaates nach amerikanischem Muster einen
grösseren Mangel an juristischer Bildung bezeugen würde, als wir ihn Biıs-
MARCK zumuten dürfen. Rosm bemerkt S. 97 sehr richtig, dass nach Biıs-
MARCKS Auffassung der Unterschied des Bundesstaates und des Staatenbundes
am entscheidenden Punkte „nur ein quantitativer* ist. Es kann gar kein
anderer sein. Beide sind vertragsmässige Staatenvereinigungen für dauernde,
wesentliche Angelegenheiten betreffende Gemeinschaft. Ist die Bundesgewalt
schwach entwickelt, so nennt man es einen Staatenbund, ist sie stark ent-
wickelt, so dass die Bundesgewalt einen gewissen Umfang und eine gewisse
Festigkeit erreicht, so nennt man es Bundesstaat. Bei der Republik bildet
sich an diesem Punkte zugleich eine juristische Cäsur, indem hier alsbald
der neue Gesamtsouverän auftritt und einen Oberstaat bildet.