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Leon Duguit, Prof. de droit & l’Universit€e de Bordeaux, L’Etat, Les
Gouvernants et les Agents. Paris (Alb. Fontemoing) 1903.
774 pages. 8°.
Das umfangreiche Werk ist der zweite Teil der Etudes de droit public,
deren erster im Jahre 1900 erschienene den Titel hat „l’Etat, le droit ob-
jectif et la loi positive“ und die allgemeinen Anschauungen des Verf. über
die Entstehung des Rechts, das Verhältnis von Staat und Recht, von Recht
und Gesetz, von Inhalt und Wirkung der Rechtssätze u. s. w. behandelt.
Unter Berufung und, soweit zum Verständnis erforderlich, unter Wieder-
holung der im ersten Bande entwickelten Lehrsätze behandelt der Verf. in
dem zweiten Bande das Verhältnis von Staat und Beamten. Der Verf. steht
in einem radikalen Gegensatz zu den herrschenden Lehren des allgemeinen
Staatsrechts und besonders auch zu der neueren deutschen staatsrechtlichen
Litteratur, welche er in allen Teilen seines Werkes angreift; ja dieser
Gegensatz ist so gross, dass ein gemeinsamer Boden zur Erörterung und
Austragung der Meinungsverschiedenheiten über einzelne Fragen nicht ge-
geben ist. Um den Deduktionen des Verf. zu folgen, muss man von allen
gewohnten Rechtsvorstellungen sich emanzipieren ; allerdings ist es aber um
so interessanter, einen ganz neuen und eigenartigen Kreis von Rechtsvor-
stellungen kennen zu lernen und den scharfsinnigen, fein durchdachten und
in fesselnder Form vorgetragenen Erörterungen des Verf. zu folgen. Der Verf.
beginnt gleich mit dem Satz, dass der Staat weder eine juristische Person
noch souverän sei; es giebt keine Staatsgewalt als Rechtsinstitution ;
die Staatsgewalt sei die bloss thatsächliche Macht der Starken über die
Schwachen in einer geschichtlich gegebenen Vereinigung von Menschen.
Die Starken, welche herrschen, sind nichts als Individuen, ebenso wie die
Beherrschten; sie haben niemals in ihrer Eigenschaft als die Herrschenden
die Rechtsmacht, Anordnungen zu geben; sie sind wie alle Individuen den
Rechtsregeln unterworfen, welche in der „sozialen Solidarität“ ihren Grund
haben, und jede Aeusserung des herrschenden Willens ist legitim, wenn sie
dieser Ordnung, die der Verf. allein als „droit“ gelten lässt, entspricht.
Die Herrschenden haben aus mehrfachen Gründen ihr Vorrecht der Macht
organisiert und reglementiert und es dadurch befestigt; sie sind aber auf
entgegengesetzte Kräfte gestossen, welche zu Revolutionen oder zu Fort-
bildungen führten. Die moderne Entwicklung hat dazu geführt, dass die
Mehrheit die grössere thatsächliche Kraft hat als die Minderheit; daher
ist die Mehrheit Herrscher. Der Verf. verwirft ferner die Vorstellung des
Mandats, der Vollmacht und der Stellvertretung, um die Stellung der staat-
lichen Organe und der Beamten zu bestimmen; die Herrschenden sind keine
Gesamtperson, haben keinen Gesamtwillen, haben kein Recht, zu befehlen,
können kein Recht einem andern übertragen und können sich nicht vertreten
lassen. Der Verf. erklärt es für unmöglich, dass das Gesetz ein subjektives
Recht begründe; jedes subjektive Recht entstehe durch einen Akt des in-