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verneinen: die Verfassungsbestimmungen bezwecken, übermässig
lange Vertagungen gegen den Willen des Parlaments auszu-
schliessen, und als Grenze ist zunächst die Frist von dreissig
Tagen gesetzt. Die mit dieser Zeitbestimmung zum Ausdruck
gebrachte Tendenz rechtfertigt den Schluss, dass es dem König
bzw. dem Kaiser unbenommen ist, die Volksvertretung bis zur
Dauer von dreissig Tagen auch in Zwischenräumen uneingeschränkt
zu vertagen und dass sich das Verbot der Vertagungswieder-
holung aus eigener Machtbefugnis nur auf den Fall bezieht, dass
entweder eine Vertagung über den Zeitraum von dreissig Tagen
hinaus in derselben Session bereits stattgefunden hat oder dass
die Zusammenzählung der Tage der früheren und der gegenwär-
tigen Vertagung eine Summe von mehr als dreissig Tagen ergibt.
Neben dem Vertagtwerden durch den König bzw. den Kaiser
besteht noch das Sichvertagen®® nach Erschöpfung der Tages-
ordnung oder auf Grund eigenen Beschlusses des Hauses (ad-
journment)°®,. Es ist dies eine andere Art der Vertagung als
jene, von welcher die Verfassung spricht. Sie beruht auf der Not-
wendigkeit, Sitzungen zu beendigen bzw. zwischen den einzelnen
Sitzungen gewisse kürzere oder längere Ruhepausen‘® eintreten
zu lassen, und hat mit der ersteren nur den Namen, nicht aber
die Wirkungen gemein. Als eine rein tatsächliche Verschiebung
der Verhandlungen ist sie eine Frage des Geschäftsganges, die
durch Mehrheitsbeschluss zur Erledigung gebracht wird, ohne dass
dem Bundesrat rechtlich irgend eine Einwirkung zustände®!.
#8 Vgl. PErRELS, Das autonome Reichstagsrecht a. a. O. S. 104.
5% Zu eng ARNDT, Staatsrecht a. a. O., wenn er als Gründe solcher Ver-
tagung nur Feste und Mangel an Beratungsgegenständen nennt,
6° Der Umfang derselben ist nirgends bestimmt. Sie bemessen sich
regelmässig nach Tagen, bisweilen jedoch auch nach Stunden oder Wochen
(sog. Ferien).
°ı Vgl. Verhandlung vom 20. Jan. 1894 (Stenographische Berichte der
IX. Legislaturperiode 2. Session S. 769B). S. auch Geschäftsordnung für
den Reichstag $ 53 Abs. 1.