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tatsächlichen Lage befindet, die es ihm möglich macht, an der Abstim-
mung im Bundesrat teilzunehmen, sei es durch Stimmabgabe, sei es durch
Stimmenthaltung oder deren Surrogate. Derjenige Bundesstaat, der sich
nicht in einer derartigen Lage befindet, verletzt eine Bundespflicht und hat
Reichsexekution zu gewärtigen* (S. 90). Hierher gehöre der Fall, „dass in
einem Bundesstaat der Thron unter mehreren Prätendenten streitig ist und
deshalb entweder gar kein Bundesratsbevollmächtigter ernannt wird oder der
oder die ernannten vom Bundesrat abgelelınt werden“.
Diese Deduktion ist von Anfang bis zu Ende so haltlos, dass sie in der
Literatur des deutschen Staatsrechts kaum ihresgleichen findet. Zunächst
erlaubt sich der Verf. ein quid pro quo, indem er die angebliche Verpflich-
tung der Staaten gegeneinander mit der Verpflichtung des Staates gegen das
Reich vertauscht und eine Bundespflicht daraus macht. Aber der Ausgangs-
punkt ist völlig unrichtig. Der Verf. muss selbst zugeben, freilich versteckt
in einer Anmerkung $. 84, dass Preussen „faktisch“ eine Ausnahme mache,
weil dessen Stimmgewicht durch Stimmenthaltung eines andern Staates
17 mal grösser werde als das eines Kleinstaates. Wenn aber mehrere Staaten,
die zusammen 18 oder mehr Stimmen haben, in einer Angelegenheit ab-
weichend von Preussen stimmen, so haben sie wieder zusanımengenommen
an der Stimmenthaltung eines andern Staates „faktisch“ einen grösseren
Vorteil als Preussen. Welches Interesse hat aber überhaupt ein Staat daran,
dass ein anderer Staat, der mit ihm übereinstimmt, sich der Stimme
enthalte; umgekehrt kommt es ihm zu gute, wenn ein Staat, dessen Re-
gierung entgegengesetzt votieren würde, sich der Abstimmung enthält. Dabei
ist die Abstufung der Stimmenzahl ganz indifferent und man kommt mit der
Bruchrechnung des Verf. ganz in die Brüche. Das Tollste aber ist, dass der
Verf. plötzlich seine eigene Behauptung vergisst oder in das Gegenteil ver-
kehrt, indem er im Hinblick auf Art. 7 RV behauptet, die einzelnen Staaten
haben keinen Anspruch darauf, dass jeder andere sein Stimmrecht ausübt,
sondern dass er sich in der Lage befinde, die ihm dies möglich macht
und dass er es nicht nur durch Stimmabgabe, sondern auch durch Stimm-
enthaltung oder deren Surrogate (?) ausüben könne. Welchen Nutzen haben
die andern Staaten von dieser „Möglichkeit“ und welchen Unterschied macht
es für ibr „Stimmgewicht“, aus welchem Grunde ein Staat im Bundesrat
nicht vertreten ist oder nicht mit abstinmt? Die „Stimmabgabe durch
Stimmenthaltung“ ist jedenfalls ein sonderbares Phänomen. Es ist daher
wohl kaum nötig, auf den Salto mortale einzugehen, den der Verf. von dem
Fehlen eines vom Bundesrat als gehörig legitimiert anerkannten Bevoll-
mächtigten zur Bundesexekution macht.
Man fühlt sich sehr enttäuscht, wenn man nach Ueberwindung der
breiten, vielfach auf Nebenwege abirrenden und sehr scholastischen Aus-
führungen des Verf. zum Schluss kein besseres Resultat erhält als das im
vorstehenden besprochene. Laband.
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