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anerkannt, woraus noch keineswegs folgte, dass diese Gesetz-
bücher das Naturrecht als überpositives Recht irgendwie aner-
kannt haben.
Wenn man mir dieses zugibt, dass das Naturrecht als über-
positive Rechtsquelle und die Natur der Sache als freies richter-
liches Ermessen wohl zu unterscheiden seien, dann möchte ich
einen Schritt weiter gehen und sagen: Die Anerkennung des
freien richterlichen Ermessens im Code Napoleon und im österr.
(tesetz ist nichts anders als eine Umschreibung für die Etablie-
rung der Geschlossenheit der Kodifikation. Darauf deutet auch
der Ausspruch der österr. Hofkommission in ihrem allerunter-
tänigsten Vortrage v. 19. Januar 1808 hin. Dort heisst es ın
dem Abschnitte von der „Vollständigkeit“ des Gesetz-
buches !°:
„Wenn der Bürger aus dem Üodex den ganzen Umfang
seiner Privatrechte erkennen soll, so ist IV. wesentliche Eigen-
schaft Vollständigkeit. Der Codex darf nicht nur keinen Zweig
der Rechtsgeschäfte übergehen, sondern er muss auch für jeden
Zweig so erschöpfende Vorschriften enthalten, dass der Richter
und Rechtsgelehrte jeden möglichen Rechtsfall zu entscheiden
fähig sei. So sehr sich gegen die Möglichkeit, dieser Forde-
rung Genüge zu leisten, die unendliche Mannigfaltigkeit der
Rechtsfälle zu sträuben scheint, so wird sie doch durch dıe
Betrachtung ausser Zweifel gesetzt, dass das Recht auf festen
und unveränderlichen Regeln beruhet, die aus höheren und
allgemeinen, somit für alle mögliche Fälle ausreichenden Grund-
sätzen zurück abgeleitet sind. Die Natur wird, so wie die
physische, sehr sparsam durch wenige Gesetze regiert, auf die
sich alle einzelnen Erscheinungen und Fälle zurückführen lassen.
Die Vollständigkeit der Gesetzgebung kann also zwar nie
durch eine noch so ausgebreitete ängstliche Kasuistik, wohl aber
19 Siehe OFNER, Urentwurf 11, S. 469.