Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 24 (24)

— 456 — 
anerkannt, woraus noch keineswegs folgte, dass diese Gesetz- 
bücher das Naturrecht als überpositives Recht irgendwie aner- 
kannt haben. 
Wenn man mir dieses zugibt, dass das Naturrecht als über- 
positive Rechtsquelle und die Natur der Sache als freies richter- 
liches Ermessen wohl zu unterscheiden seien, dann möchte ich 
einen Schritt weiter gehen und sagen: Die Anerkennung des 
freien richterlichen Ermessens im Code Napoleon und im österr. 
(tesetz ist nichts anders als eine Umschreibung für die Etablie- 
rung der Geschlossenheit der Kodifikation. Darauf deutet auch 
der Ausspruch der österr. Hofkommission in ihrem allerunter- 
tänigsten Vortrage v. 19. Januar 1808 hin. Dort heisst es ın 
dem Abschnitte von der „Vollständigkeit“ des Gesetz- 
buches !°: 
„Wenn der Bürger aus dem Üodex den ganzen Umfang 
seiner Privatrechte erkennen soll, so ist IV. wesentliche Eigen- 
schaft Vollständigkeit. Der Codex darf nicht nur keinen Zweig 
der Rechtsgeschäfte übergehen, sondern er muss auch für jeden 
Zweig so erschöpfende Vorschriften enthalten, dass der Richter 
und Rechtsgelehrte jeden möglichen Rechtsfall zu entscheiden 
fähig sei. So sehr sich gegen die Möglichkeit, dieser Forde- 
rung Genüge zu leisten, die unendliche Mannigfaltigkeit der 
Rechtsfälle zu sträuben scheint, so wird sie doch durch dıe 
Betrachtung ausser Zweifel gesetzt, dass das Recht auf festen 
und unveränderlichen Regeln beruhet, die aus höheren und 
allgemeinen, somit für alle mögliche Fälle ausreichenden Grund- 
sätzen zurück abgeleitet sind. Die Natur wird, so wie die 
physische, sehr sparsam durch wenige Gesetze regiert, auf die 
sich alle einzelnen Erscheinungen und Fälle zurückführen lassen. 
Die Vollständigkeit der Gesetzgebung kann also zwar nie 
durch eine noch so ausgebreitete ängstliche Kasuistik, wohl aber 
19 Siehe OFNER, Urentwurf 11, S. 469.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.