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rige Fragen ins Leben ruft. Ist Russland, wenn es als Ein-
heitsstaat aufgefasst wird, durch das Hinzukommen Finnlands
einer „Verfassungsänderung“ unterzogen worden, ist es ein teil-
weise konstitutioneller Staat geworden?® Wie können sich kon-
stitutionelle Ausnahmebestimmungen in einem autokratischen
Staatsrechte geltend machen? Die älteren sogenannten russi-
schen Staatsgrundgesetze hatten selbstverständlich gar nicht den
Charakter einer Verfassung im engeren Sinne des Wortes. Da-
von, dass das Grossfürstentum Finnland eine besondere Verfas-
sung hat, sprachen diese Grundgesetze kein Wort. Unter der
angeblichen Gesamtverfassung könnte also keine einheitliche
schriftliche Verfassungsurkunde, sondern die gesamte staatsrecht-
liche Struktur des als Einheitsstaat aufgefassten russischen Reichs
mit den darin vorhandenen rechtlichen Verschiedenheiten ver-
standen werden; in der Tat eine äusserst eigenartige und form-
lose Verfassung. Eine wirkliche Staatsverfassung ist doch ein
(fanzes, von einem obersten Prinzip, entweder dem konstitutio-
nellen oder dem autokratischen, beherrscht; dies macht sich be-
sonders bei Verfassungsänderungen geltend. Bei einem Versuch,
die beiden Prinzipien in einem und demselben Staate nebenein-
ander zu verwirklichen, muss entweder das konstitutionelle den
Sieg über das absolutistische davontragen, oder aber das letztere
tendiert tatsächlich dazu, die Sätze konstitutionellen Inhalts zu
Verfassungsbestimmungen zweiten Ranges, zu einem verfassungs-
mässiger Garantien entbehrenden staatsrechtlichen Prekarium
herabzudrücken. Allerdings wäre eine Verletzung der fraglichen
Rechtssätze an sich jedenfalls ein Verfassungsbruch, nämlich so-
zusagen ein „partikulärer“ Verfassungsbruch, den nicht der ganze
Staat als solcher fühlen würde; sie würde weitaus nicht dieselbe
politische Tragweite haben wie eine derartige Handlung in einem
wirklich und durchweg konstitutionellen Staate. Es bedarf in
® Das Selbstherrschertum war zur Zeit der Vereinigung Finnlands mit
Russland gerade ein Kardinalsatz der sog. russischen Staatsgrundgesetze.
Archiv für öffentliches Recht. XXIV. 4. 35