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sucht sich die Vorstellung geltend zu machen, dass das Recht
des geringeren Teiles dem obersten Staatsprinzip unterzuordnen
ist, das heisst hier: dass es dem Willen des Herrschers anheim-
gestellt ist, seine eigentliche Rechtsgarantie in dem „Herrscher-
worte“ hat und gewissermassen von dem politischen „Wohlver-
halten“ des betreffenden Staatsteiles abhängig ist. Diese Auf-
fassung ist natürlich durchaus unrichtig, aber ihr Vorhandensein
wie auch ihre teilweise Erklärlichkeit können nicht geleugnet
werden. Der Umstand, dass Finnland schon vom Anfang der
Vereinigung mit Russland an in öffentlichen Akten und in Aeusse-
rungen der Monarchen sowie — seitdem seine staatsrechtliche
Stellung allgemeiner zum Gegenstand wissenschaftlicher Unter-
suchungen gemacht worden ist — von den meisten bedeutenden
Staatsrechtslehrern (auch von russischen) als Staat und seine
Verfassung als besondere Staatsverfassung charakterisiert wor-
den ist, hat gewiss seinerseits dazu beigetragen, dass das Land,
die sechsjährige, überstandene Periode voll Gewalt und Gesetz-
widrigkeiten ausgenommen, seine Verfassung hat behalten und
sogar bedeutend ausbilden dürfen, was ihm hoffentlich auch in
der Zukunft möglich sein wird. Um der finnländischen Verfas-
sung ihre volle und unverkürzte Gültigkeit zuzuerkennen, hat
man schon mit Hinsicht auf die noch immer bestehenden Ver-
hältnisse in Russland, nicht umhin gekonnt, sie als wirkliche
Staatsverfassung und somit das Land selbst als Staat anzuer-
kennen.
Fasst man die finnländische Verfassung nicht als eine be-
sondere Staatsverfassung, sondern als einen partikularistischen
Bestandteil einer einheitsstaatlichen Gesamtverfassung auf, so
liegt ausserdem die Gefahr nahe, dass bei einem wirklichen Ueber-
gang zum konstitutionellen Staatsleben in Russland die weitere
raison d’etre einer besonderen finnländischen Verfassung bean-
standet werden könnte. Vielleicht möchte man dann — und
dies ist leider nicht vollkommen ausgeschlossen — von russischer
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