Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 24 (24)

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Philosophie kümmert sich überhaupt nicht um die Einzelerscheinung als 
solche, sie sucht Kräfte und Gesetze, die in den Einzelerscheinungen wir- 
ken; sie gleicht dem 100äugigen Argus, der nach allen Seiten zugleich 
sieht, der Spinne, die mit ihrem zentralen Körper nach allen Seiten mar- 
schieren kann. 
Von diesem Standpunkte aus ist die neue Rechtsphilosophie von KOHLER 
nichts anderes als höchstens ein Baustein für eine wirkliche Rechtsphiloso- 
phie — nicht einmal das; denn es müsste alles total umgestossen werden. 
Man vgl. z. B. was KOHLER über die Blutsbrüderschaft sagt: 
„Pie Blutsbrüderschaft ist eine Quelle grossartiger Opferwilligkeit: eine 
Quelle der Erhebung, der gegenseitigen Fürsorge, lauterster Selbstlosigkeit 
gewesen.“ Dass die Blutsbrüderschaft eine ideale Freundschaft verkörpert, 
lass die ıdeale Freundschaft einer Form, unter der die Blutsbrüderschaft 
vewöhnlich geschlossen wurde, nicht bedarf, dass die Blutsbrüderschaft in 
der Regel ein Ausfluss von Barbarei und wilder Leidenschaft ist, davon 
lesen wir nichts bei KOHHER. 
Wie wenig würdigt KouLEr die Monogamie! Dass die Monogamie 
(lie einzige Möglichkeit für die Erhaltung reinen Menschentumes ist, dass 
Polygamie immer eine gewisse Entartung mit sich bringt, weil sie störend 
in das Seelenleben eingreift — davon ist nicht die Rede. Dass die Ehe- 
scheidung ein Kompromiss an die rauhe Wirklichkeit ist — dass dieses Kom- 
promiss zur Voraussetzung hat eine Schuld und dass es an sich wieder eine 
Schuld ist — davon lesen wir nichts. 
Was ist überhaupt Kultur?” Was ist Ideal? Was ist Zweck des Men- 
schendaseins ? 
All das bedürfte einer Festlegung, die K. versäumt hat. 
Noch vieles wäre zu sagen: aber all das würde nichts anderes bedeuten 
als: eine neue Rechtsphilosophie. Die Rechtsphilosophie als Teil der Phi- 
losophie darf und muss sich mit den Idealen der Menschheit befassen. 
Eine Philosophie, die den tieferen Fragen aus dem Wege geht, ist nicht Phi- 
losophie. Joseph Tuma, Passau. 
Giuseppe Ottolenghi. Il rapporto di neutralitä. Torino 1907. 
S. 518. 
Das Buch enthält eine gründliche, auf umfassender Literaturkenntnis 
basierende Erörterung der mit der Neutralität zusammenhängenden Rechts- 
tragen. Der Verfasser gehört zu jenen nicht gerade zahlreichen Vertretern 
des Völkerrechtes, die ihre Aufgabe nicht in der blossen Registrierung und 
Kommentierung der einschlägigen Staatsverträge, Rechtssprüche u. s. w. er- 
blicken, sondern den gegebenen Stoff durchwegs geistig zu durchdringen 
suchen. Dass dies nach streng juristischer Methode geschieht, erhöht das 
Verdienst der Arbeit, wenngleich dem Verfasser von mancher Seite der Vor-
	        
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