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IV.
Wir haben also festgestellt, daß sowohl das österr. ABGB.
als auch der Code Napoleon von Haus aus auf dem Standpunkt
der J;ückenhaftigkeit der Kodifikation stehen. Anderseits aber
kann gewiß nicht geleugnet werden, daß auf dem Kontinente im
19. Jahrh. überwiegend, bis in die letzten Dezennien hinein, die
Idee der Lückenlosigkeit, Geschlossenheit der Kodifikation herr-
schend gewesen ist, um erst in der allerjüngsten Zeit wieder der
Erkenntnis von der Lückenhaftigkeit der Kodifikation, ja der
Rechtsordnung überhaupt Platz zu machen. Wir haben hier
also die bemerkenswerte Erscheinung eines nachträglichen Wan-
dels in der Rechtsaufiassung vor uns.
Was für Umstände haben diese Aenderung bewirkt? Die
Beantwortung dieser Frage muß einer selbständigen Untersuchung
vorbehalten bleiben. Heute möchte ich mich darauf beschränken
die Vermutung auszusprechen, daß auch in dieser Beziehung
nicht etwa der Einfluß BENTHAMs, sondern vielmehr der der hi-
storischen Schule die entscheidende Rolle gespielt hat.
Die Idee der Geschlossenheit der Kodifikation, so wie sie
im 19. Jahrh. auf dem Kontinent herrschend war, läßt sich in
zwei Elemente zerlegen: Einerseits der Kodifikationsgedanke,
d. h. die Idee, alles positive Recht sei im Codex enthalten,
eventuell ergänzt durch das Naturrecht als subsidiäre Rechtsquelle’”
(grundsätzlicher Ausschluß aller anderen positiven Rechts-
quellen), anderseits die Ideeder@eschlossenheit der positiven
Rechtsordnung (Ausschluß der überpositiven Rechtsquelle des
Naturrechts). Das Kodifikationsprinzip ist bereits von den
großen Monarchen des deutschen Absolutismus im 18. Jahrh.
75 Wie die Beispiele des auf dem Kodifikations-Prinzip ruhenden öster-
reichischen und französischen Zivilgesetzbuches zeigen (vgl. dazu das oben
über den ZEILLERschen Begriff der „Vollständigkeit des Gesetzbuches“ Ge-
sagte).