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waren die Exzesse der 48er und 49er Jahre nicht angetan, den
Mittelstand für das Arbeitervolk zu gewinnen '5°.
Das oktroyierte Wahlgesetz vom 6. Dezember 1848 führte
schon wieder die Bedingung der Selbständigkeit für das Wahl-
recht ein!5’ und damals war man schon allgemein überzeugt,
daß damit die Reaktion in der Wahlgesetzgebung noch nicht ihr
letztes Wort gesprochen hatte. Es war nur noch die Frage, auf
welche Weise man am glücklichsten den Rückzug antreten könne.
Die Klassensteuer, die bei der bunten Mannigfaltigkeit der preußi-
schen Steuerverhältnisse für einen Wahlzensus allein in Betracht
gekommen wäre, hätte nämlich dem bäuerlichen Grundbesitz
und dem städtischen Mittelstande eine dominierende Stellung
über Großgrundbesitz und Großindustrie eingeräumt !5®,. Ob nun
endlich die in den Vorberatungen von einem guten Politiker er-
wähnte Zenturienverfassung!®?, oder das von den rheinischen
Abgeordneten empfohlene Gemeindewahlgesetz für die Rheinpfalz
vom 23. Juli 184560 den Ausweg zum heute bestehenden Drei-
klassenwahlsystem bot, ist hier nicht weiter von Belang.
So stellt sich in großen Zügen der Werdegang des am
30. Mai oktroyierten Dreiklassenwahlgesetzes dar, das einerseits
schon ın die Gruppe des Massenzensus gehört, da ein Zensus
nach unten praktisch nicht besteht, andrerseits aber auch dem
Mittelstande und besonders dem Großkapitale dem großen Volke
gegenüber eine erdrückende Stellung einräumt. Daß seine Wir-
kungen trotz mancher Erleichterungen heute noch die gleichen
sind wie vor 50 Jahren, zeigt am schlagendsten die vergleichende
Statistik der Wahlen vom Jahre 1855 und 1908.
156 GNnEIsT, Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußi-
sche Dreiklassenwahlsystem 8. 22.
157 RÖNNE, Staatsrecht der preußischen Monarchie Lpz. 18811], 42 Anm. 2.
158 nEIST, Die nationale Rechtsidee $. 20.
‚159 Ebenda S. 24.
160 Wahlstatistik 1908, veröff. von der preuß. Regierung. Ende Dez. 1909.