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Er glaubt die Lösung dieser Aufgabe dadurch zu vollbringen, daß er
die Verkehrssitte mit in den Kreis der Betrachtung zieht. Verfasser geht
dabei hauptsächlich davon aus, daß auch in anderen Rechtsgebieten die
Verkehrssitte heute eine bedeutende Rolle spielt. Vor allem habe die Kodi-
fikation des deutschen bürgerlichen Rechts im bürgerlichen Gesetzbuch der
Verkehrssitte einen weitgehenden Einfluß eingeräumt. Schon hier beginnt
die Sache bedenklich zu werden. Die Verkehrssitte im bürgerlichen Recht
und die Verkehrssitte im Verkehr der Staaten untereinander sind doch wesent-
lich verschiedene Dinge. Die Verkehrssitte des bürgerlichen Rechts ist, so-
weit das bürgerliche Gesetzbuch ihre Beobachtung vorschreibt, selbst Recht.
Soweit das bürgerliche Gesetzbuch sie nicht anzieht, hat ihre Nichtbeach-
tung auch gar keine Rechtsfolgen. Die Verträge sind so auszulegen, wie
Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. So
weit es sich also um die Auslegung von Verträgen handelt, haben die
Sätze der Verkehrssitte die Kraft von Rechtssätzen. Dagegen braucht der
Inhalt der Verträge durchaus nicht gerade der Verkehrssitte zu ent-
sprechen. Das bürgerliche Gesetzbuch kennt keinen Rechtssatz, der be-
sagt, daß Verträge nur gültig seien, wenn sie einen verkehrsüblichen Inhalt
hätten, und darum kann in Verträgen als Verpflichtung des Schuldners das
Allermerkwürdigste festgesetzt werden, ohne daß dies irgend welche recht-
lichen Folgen hätte?. — Ganz anders liegt die Sache auf dem Gebiet des
Völkerrechts. Hier gibt es, von wenigen Konventionen abgesehen, kein
kodifiziertes Recht; infolgedessen gibt es auch keine Vorschrift, die das
Beobachten der Verkehrssitte für bestimmte Fälle für notwendig erklärt.
Die Verkehrssitte kann also nicht, wie beim bürgerlichen Recht in ihrer
Allgemeinheit, wenn auch nur für bestimmte einzelne Fälle, zum Recht
werden. Es können zwar einzelne Regeln der Verkehrssitte durch lange
Uebung zum Gewohnheitsrecht werden, aber mit diesem Augenblick hören
sie auf, Verkehrssitte zu sein, sie sind Gewohnheitsrecht geworden. Wäh-
rend also beim bürgerlichen Recht die Verkehrssitte in ihrer Eigenschaft
als solche Rechtsbestandteil auf Grund einer positiven Vorschrift werden
kann, so daß bei einer Veränderung der Verkehrssitte die Sätze der neuen
Sitte als Rechtsbestandteile gelten, kann im Völkerrecht nur der eine oder
andere Satz der Verkehrssitte zum Rechtsbestandteil werden; eine Ver-
änderung der Verkehrssitte hebt das einmal gewordene Gewohnheitsrecht
nicht wieder auf. Insofern stimmt also der Vergleich der Verkehrssitte des
Staatenlebens mit der des bürgerlichen Rechts nicht.
Betrachten wir die Ausführungen des Verfassers weiter. Er glaubt
dem Problem eine ganz neue Wendung zu geben durch den Hinweis, daß
courtoisie und Verkehrssitte im Staatenleben eins sei. Ich meine, das hätte
® Daß die Verträge inhaltlich nicht wider die guten Sitten verstoßen
dürfen, heißt natürlich nicht, daß der Inhalt verkehrsüblich sein muß.