— 348 —
täglich; es läßt sich daher im bürgerlichen Leben in vielen Fällen sehr leicht,
in anderen Fällen wenigstens bei eingehender Prüfung feststellen, was Ver-
kehrssitte für einen bestimmten Fall vorschreibt. Die Verkehrssitte des
Staatenlebens wird nur von der kleinen Zahl der Kulturstaaten geübt; manche,
vielleicht der überwiegende Teil der Regeln der Verkehrssitte kommt hier
jahrelang nicht zur Anwendung. Und daher ist es hier fast immer sehr
schwer, in zahllosen Fällen aber unmöglich, festzustellen, was die Verkehrs-
sitte für den einzelnen Fall vorschreibt. Der „Vorzug der eventuellen pro-
zessualen Feststellbarkeit“ fehlt daher der Verkehrssitte des Staatenlebens
genau so, wie es der courtoisie fehlt. Wie könnte es auch anders sein.
Es ist ja gar nicht einzusehen, weshalb es denn nun mit einem
Male kommen sollte, daß man die comitas oder courtoisie, ihre Regeln,
ihren Inhalt eventuell prozessual feststellen kann, nachdem man erkannt
hat, daß siemitder Verkehrssitte identisch sind, nachdem man sich entschlossen
hat, in Zukunft anstatt „courtoisie“ „Verkehrssitte“ zu sagen. Ich glaube,
hier ein praktisches Ergebnis der Arbeit nicht finden zu können.
Immerhin ist ein Vorzug ihr nicht abzustreiten: Durch eine sehr aus-
führliche und eingehende Uebersicht über die gesamte einschlägige Litera-
tur, auch die des Auslandes, wird der status rei controversiae in klaren,
scharfen Umrissen dargeboten, eine Sichtung des Materials, die zur Klärung
der Frage recht wesentlieh beiträgt.
II. Die Fortschritte des Seekriegrechtes durch die
zweite Haager Friedenskonferenz von Philipp Zorn,
ord. Professor der Rechte in Bonn (Band II, S. 173—202).
Wenn man zu einem klaren Urteil über die Erfolge der zweiten Haager
Friedenskonferenz kommen will, so muß man m. E. die dort aufgestellten
Konventionen in drei Gruppen sondern. Bisher hat man, soviel mir be-
kannt, immer nur unterschieden zwischen den Abmachungen, die vorläufig
nur auf dem Papier stehen, und solchen, deren praktische Anwendung ge-
gebenen Falles zu erwarten ist. Mir erscheint es notwendig, diese letzteren
Konventionen noch einmal zu teilen in solche, die auch ohne eine beson-
dere Bestimmung, ohne die ausdrückliche Einigung der Mächte im Haag in
einem künftigen Seekriege gegolten, und solche, die ohne die Beschlüsse
der Friedenskonferenz keine Geltung gehabt haben würden. Nur die letz-
teren sind der zweiten Haager Konferenz gutzuschreiben, nur hier hat sie
Positives geleistet.
Diese Einteilung findet sich in der kleinen Abhandlung aus der Feder
des bekannten Teilnehmers an der Konferenz nicht. Obgleich Zorn in
diesem Aufsatze seinen Optimismus über den praktischen Wert der Frie-
denskonferenz gegen früher bereits erheblich eingeschränkt hat, ist die Be-
urteilung des erzielten praktischen Erfolges m. E. immer noch entschieden
zu optimistisch; wenn man sich einmal mit unerschütterlicher Objektivität
dieoben angedeutete Dreiteilung vor Augen führt, wirdman erkennen, daß doch