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als „höchstrichterliche Aufsicht“ bezeichnet, als einen Anwendungsfall der
Reichsaufsicht über die Einzelstaaten behandelt und den Unterschied „nur“
in der Beschränktheit des dem Aufsichtsrechte zu Grunde liegenden „Be-
fehlsrechts* findet. Die Rechtsprechung ist spezifisch verschieden vom Auf-
sichtsrecht; die Aufsicht geht, gleichviel durch welche Behörde sie ausge-
übt wird, von dem Herrscher aus und hat die Tendenz, das Verhalten der
ihm untergeordneten Person zu kontrollieren. Die Gerichte dagegen urteilen
nur auf Verlangen der Parteien und nur nach Maßgabe der pro-
zessualischen Regeln über die Rechtsmittel. Falsche, den Sinn der Reichs-
gesetze völlig verkennende Urteile der staatlichen Gerichte bleiben bestehen,
wenn die Revision unzulässig ist oder nicht eingelegt wird und die Funktion
der obersten Gerichte des Reichs ist ganz die gleiche, mögen die Instanz-
gerichte Staatsgerichte oder — wie die Marinegerichte — Reichsgerichte
sein. Auch wenn alle ordentlichen Gerichte Reichsgerichte wären, würde
die Funktion des Reichsgerichts keine andere sein als sie es nach der
jetzigen Gerichtsverfassung ist; sie würde Rechtsprechung bleiben. Die
Vernichtung wie die Bestätigung des angegriffenen Urteils ist nicht ein
Akt der Aufsicht, sondern die Antwort der staatlichen Behörde auf die
Beschwerde der Partei über die Entscheidung der Instanz und vom Reichs-
gericht gilt im Verhältnis zu den Oberlandesgerichten ganz dasselbe, was
von dem Verhältnis der Gerichte zweiter Instanz zu den Gerichten erster
Instanz, also unter Gerichten desselben Staates gilt. Die Aufsicht richtet
sich gegen den untergeordneten Staat oder die untergeordnete Behörde;
das Urteil ist nicht an die vorige Instanz adressiert, sondern wird den
Parteien erteilt. Bei den höchstrichterlichen Urteilen gibt es daher auch
keinen „Aufsichtskonflikt“ ; sie sind immer maßgebend, auch wenn sie un-
richtig sind. Eine wirkliche Aufsicht über das Gerichtswesen der Einzel-
staaten übt das Reich nur durch das Reichsjustizamt in dem ihm zuge-
wiesenen Geschäftskreise aus, dagegen weder durch die Reichsgerichte,
noch durch das Bundesamt für das Heimatwesen, noch durch das Obersee-
anıt, noch durch die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes, welche
alle vom Verf. als Organe der Reichsaufsicht über die Einzelstaaten be-
handelt werden. Laband.
Max Wenzel, Zur Lehre dervertragsmäßigenElemente der
Reichsverfassung,. (Abhandlungen von ZORN und STIER-SOMLO
Band V Heft 1). Tübingen, J. C. B. Mohr. 1909. (176 S. M. 4,60.)
Der Verfasser will nachweisen, daß die an mehreren Stellen der RV.
erwähnten Verträge gar keine Verträge, sondern gesetzliche Dispositionen
sind. Weil die RV., wie jedes Gesetz einseitig das Verhältnis des
Reiches zu seinen untergeordneten Gliedern und dieser Glieder untereinander
regeln will, so erscheinen diese Verträge dem Verf. wie „Fremdkörper“,
als „regelwidrig‘, als „Ausnahmeerscheinungen“ Dieses Axiom, welches den