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Der Wandel unserer bundesstaatlichen Verfassung von 1867
bis jetzt ist für diese Bedeutung des Gewohnheitsrechtes eines
der schlagendsten Beispiele. Von dem geltenden Verfassungs-
rechte wird der schwerlich eine richtige Vorstellung bekommen,
der es etwa nur aus dem Texte der Reichsverfassung kennen
lernen wollte. Wir befinden uns im lebendigen Flusse einer Ent-
wicklung, die die Reichsverfassung zu etwas ganz anderem macht,
als sie ursprünglich sein sollte.
Dabei ein eigentümlicher Gegensatz zwischen der Richtung
der Gesetzgebung auf der einen, der von Gewohnheitsrecht und
Rechtswissenschaft auf der andern Seite. Die Gesetzgebung be-
wegt sich in Kurven und zeigt bisweilen starke föderative Rück-
schläge, deren bedeutendste die Versailler Verträge und die
Frankensteinsche Klausel waren. Gewohnheitsrecht und Rechts-
wissenschaft zeigen dagegen eine sich ziemlich einheitlich fort-
entwickelnde unitarische Richtung.
Nach der Zertrümmerung des alten deutschen Bundes und
der damit verbundenen Zersprengung der großdeutschen Partei
standen sich im wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber. Die
eine war die der überzeugten Unitarier, die das Heil der deut-
schen Einheitsbewegung nur in der Nachahmung des italienischen
Vorbildes, in der Aufsaugung der deutschen Staaten durch
Preußen sahen, TREITSCHKE war ihr hauptsächlichster publizisti-
scher Vertreter. Im Gegensatze dazu erblickte die bundesstaat-
liche Richtung ihr Ideal in einer über allen Bundesstaaten ste-
henden konstitutionell-monarchischen Bundesstaatsgewaltnach dem
Vorbilde der Reichsverfassung von 1849.
Keine dieser beiden Richtungen hat sich glatt durchgesetzt.
Dem Unitarismus wurde mit der Einverleibung der neuen Pro-
vinzen ein Zugeständnis gemacht, im übrigen beruhigte er sich
damit, daß der Zustand, den man nun erreicht, nur ein Ueber-
gang sein könne zum vollen Einheitsstaate. Nicht ganz so schroff
wurzelte doch in demselben Ideenkreise der Bismarcksche Ver-
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